Immer wieder werden diese Begriffe wild durcheinander geschmissen: 360Grad, Virtual Reality, Augmented Reality, seit Kurzem auch Mixed Reality. Vor allem werden Virtual Reality und 360Grad-Videos im täglichen Gebrauch mehr und mehr als Synonyme verwendet. Benutzen die Leute die beiden Begriffe einfach falsch? Oder steckt mehr dahinter? Ich bin verwirrt und mache mich auf die Suche. Wie unterscheiden sich VR-Anwendungen von 360Grad-Videos? Vor allem interessiert mich, was das Ganze fürs Storytelling bedeutet.
Meine erstes 360-Grad-Abenteuer war Polar Sea 360° von arte, das man sich am besten in der App ansehen sollte. Auf einer Tagung hatte man mir ein Papp-Headset geschenkt, für das mein altes Smartphone eigentlich viel zu schwer war und noch beim Zusammenfalten riss mir die dünne Pappe ein. Dem nicht genug war das uralte WLAN meiner Wohngemeinschaft damals so langsam, dass das Video alle 10 Sekunden stehen blieb. Und trotzdem: Ich setzte es auf und hing unter einem Hubschrauber! Unter mir nichts als Meer und Eisberge, so dass mir schwindlig wurde. Über mir die lauten Rotorenblätter und rechts und links ein atemberaubendes Panorama. Ich war fasziniert.
360Grad-Video und VR in aller Kürze
Gerade für die ersten Begegnungen mit dem neuen Medium sind 360Grad-Videos also wunderbar. Zumal die Papp-Brillen billig zu produzieren und zu kaufen sind. Aber fangen wir mal von vorne an. Die Unterschiede zwischen „richtigem“ VR Content und 360Grad-Videos, die meistens genannt werden, sind eigentlich recht klar definiert:
360Grad-Videos setzen den Zuschauer in die Mitte einer Szenerie, man kann sich umschauen und den Kopf in jede Richtung drehen.
Bei Virtual Reality kommt noch viel mehr hinzu: Man kann den Kopf nicht nur drehen (Head Tracking) – das wird auf die Dauer etwas unnatürlich, denn wer dreht denn nur den Kopf und bleibt ansonsten wie eine Statue in ein und derselben Position festgefroren? Stattdessen kann auch sich nach vorne oder zur Seite beugen, sich knien oder hinlegen (Positional Tracking). Je nach technischer Ausstattung kann man sogar im Raum herumlaufen – oder krabbeln, ja, das passiert schnell – und bekommt „Hände“ in Form von Controllern, mit denen man fast wie im echten Leben interagieren kann.
Diese Unterscheidung klingt einfach. Ach, wenn es nur dabei bliebe. Aber in Wahrheit ist es natürlich viel komplizierter. Alles fing damit an, dass ich entdeckt habe, wie man 360Grad-Videos, zum Beispiel von Youtube, in unsere heimische HTC Vive lädt…
Die Unterschiede: vor allem eine Frage der Technik?
Auch wenn ich das Video in einer super teuren Alleskönner-VR-Brille ansah: Es blieb ein herkömmliches 360-Grad-Video. Aber der ganze Eindruck, die viel beschworene Immersion, war stärker. Das liegt natürlich an der Vive, einem High-End-Headset, das man mit einem sehr leistungsstarken Computer betreiben muss und entsprechend eine sehr gute Qualität liefert. Doch mehr dazu später.
Jedenfalls entdecke ich seitdem mehr und mehr Abstufungen zwischen 360Grad-Videos und Virtual Reality. Die Übergänge der einzelnen Anwendungen sind fließend und mit der sich rasend schnell entwickelnden Technik werden die beiden zukünftig wohl immer näher zusammenrücken.
Etwas ist aber wichtig: Mit Technik meine ich hier zum einen die Produktion, also die Aufnahme-Techniken bei echten Drehorten und Design-Entscheidungen bei computergenerierten Umgebungen. Zum anderen sind da die Techniken der Wiedergabe und der Distribution, also vor allem die Headsets. Man muss entsprechend immer unterscheiden zwischen zwei Dingen:
- Was kann der Inhalt?
- Was kann das VR-Device?
Deshalb denke ich, man sollte das Ganze als unterschiedlich starke Intensitäten einer Realitäts-Erfahrung sehen. In einem Kontinuum mit mehreren Abstufungen. Ich habe hier einmal für 360Grad-Videos skizziert, was ich meine (und sorry, ich bin keine Designerin):
360Grad-Videos ohne Headset
360Grad-Videos kann man mit oder ohne ein Headset anschauen. Ohne entsprechende Apps begegnet man ihnen vor allem auf Youtube und Facebook, seit Kurzem auch auf Vimeo. Per Mausklick am Computer oder durch Bewegen des Smartphones oder Tablets kann man selbst entscheiden, welchen Ausschnitt man sehen möchte – ganz analog zu Panorama- oder 360Grad-Fotos übrigens.
360Grad-Videos mit Headset
Allemal spannender wird es jedoch mit einem Headset – sehr oft verheißungsvoll als „VR-Brillen“ vertrieben -, in das man sein Smartphone einsetzt. Preislich geht es bei ein paar Euro für ein Headset aus Pappe los, das berühmte Cardboard. Für etwas mehr Geld bekommt man eines aus Plastik, das eventuell sogar noch ein paar Einstell-Möglichkeiten für den Tragekomfort bietet. Etwas luxuriöser sind schon die Zubehör-Brillen, die viele Smartphone-Hersteller anbieten. Am bekanntesten ist dabei sicherlich das Gear-Headset von Samsung, das man mit einem entsprechenden Samsung-Smartphone nutzen kann. Relativ neu ist Googles Daydream-Brille, die ich aber leider noch nicht selbst ausprobieren konnte. All diese Headsets sind je nach Inhalt schon ziemlich nahe dran an Virtual Reality, deswegen spricht man hier auch von Mobile VR. Vor allem auch, weil die meisten dieser Systeme bereits kleine Controller beinhalten und somit zumindest in Maßen Interaktion ermöglichen sollen. Damit es nicht gleich zu kompliziert wird (und weil mir die Erfahrung damit fehlt), lasse ich diese Möglichkeit – Mobile VR mit Controller – am Anfang einmal weg.
Die Grenzen von 360Grad-Videos
Wie oben schon kurz beschrieben kann man sich in 360Grad-Videos durch Bewegen des Kopfes oder Drehen des Körpers umsehen und so die Szene erleben, als wäre man dort. Das ist für Erstanwender und für die mobile Nutzung mehr als aufregend, doch es gibt viele Limits. So ist die Kameraposition, also die Position, von der aus ich die Welt erlebe, fix. Man kann nicht umhergehen oder sich woanders hinstellen. Sich selbstständig einen anderen Blickwinkel zu suchen, ist also unmöglich, und man ist abhängig von der Wahl der Filmemacher. Wenn beispielsweise die Kamera sehr nahe am Boden aufgestellt wurde, so hat man als Zuschauer das realistischste Gefühl, wenn man sich auch in der wirklichen Welt auf den Boden setzt. Denn wenn man in der Realität fest auf beiden Beinen steht, sich in der virtuellen Welt aber auf Augenhöhe mit einem Hund befindet, so wirkt das ziemlich schnell ziemlich komisch.
Hinzu kommt, dass die meisten 360Grad-Videos zwar einen Rundumblick, also 360 Grad, ermöglichen, aber nicht 3D sind. Man hat also lauter Bild um sich herum, kann aber keine Tiefeninformationen sehen. Dadurch wirkt alles etwas flach, vor allem Objekte und Personen in der Nähe. Und jetzt fängt es an, kompliziert zu werden. 360Grad-Videos können auch stereoskopisch, also in 3D, gedreht werden.
Dass das auf jeden Fall mehr räumliches Gefühl gibt, beweist dieses hübsche, kleine Video der in Weimar ansässigen Firma actionVR (man sollte es, wenn möglich, in einem Headset ansehen):
Noch besser wird es, wenn die Erfahrung volumetrisch gedreht wurde. Ein Berliner Start-up, realities.io, beweist das schon sehr eindrucksvoll mit Fotos, die sie volumetrisch aufbereiten: Auf einmal nämlich kann man sich durch eine echte 3D-Umgebung bewegen, also darin herumlaufen, als wäre man dort! Mehr zur Volumetrie in Teil 2.
Inhalte von 360Grad-Videos
Ihr habt vielleicht bemerkt: Ich spreche jetzt immer von „drehen“ und „Kameras“. Und tatsächlich ist es so, dass 360Grad-Content vor allem reale Umgebungen und Szenen abbildet. Deshalb sind die meisten 360Grad-Videos gedrehte Filme oder Reportagen.
Für die Inhalte bedeuten all die beschriebenen Limits, dass die Filmemacher viele Entscheidungen für den Zuschauer treffen: Was sieht er von seiner Position aus? Sitzt er, steht er? Bewegt er sich gar im Video, fliegt oder fährt Motorrad wie in diesem Mini-Video? In vielen Fällen ist die Kamera hier gleichbedeutend mit den Augen: Man steht als Zuschauer selbst in einer Szene und Menschen sprechen direkt mit der Kamera, also dem Zuschauer. Manchmal wird man nicht nur angesprochen, sondern angesungen.
In einigen journalistischen Formaten ist man auch als Unbeteiligter vor Ort, sieht alles, ist aber nicht direkt ins Geschehen involviert. Auf beide Varianten werde ich in einem späteren Beitrag im Detail zurückkommen und mich fragen, wann welche Form für welchen Inhalt mehr Sinn macht.
Was Nutzer von 360Grad-Videos auch nicht können, ist das Interagieren mit der virtuellen Welt. Hebt man den Arm und will einen umherfliegenden Schmetterling anfassen, passiert – nichts. Wie unbefriedigend das sein kann, weiß man spätestens seit Avatar. Wenn man wie ich nur einen Platz in den ersten zehn Reihen bekommen hat und ständig umherfliegende Insekten oder Grashalme vor der Nasenspitze sah. Ebenso wenig, wie ich die Insekten im Kino verscheuchen konnte, kann man in 360Grad-Videos einen Gegenstand aufheben oder eine Tür öffnen.
Genau hier kommt Virtual Reality ins Spiel….
Und weil dieser ganze Text so wahnsinnig lang wurde, gibt es die VR in einem Teil 2 in wenigen Tagen.