Interaktion in Virtual Reality-Filmen: Ist das dann nicht ein VR-Spiel? Und warum ist Interaktion überhaupt ein Thema? Ich habe mir ein paar Gedanken gemacht und in meine schlauen Bücher geguckt. Achtung, jetzt wird es etwas theoretisch. Los geht’s: Wo hört der VR-Film auf und fängt das VR-Spiel an?
Grundsätzlich gibt es viele verschiedene Interaktionsarten. Selbst an sich passive Filme – in VR oder nicht – regen die Zuschauer ja zu Emotionen der ein oder anderen Art an. So jedenfalls das hohe Ziel. Auch das ist streng genommen bereits eine Interaktion, wie Caitlin Burns von der New York Film Academy im Interview erklärt. In diesem Artikel geht es aber um die wirklich aktiven Interaktionen. Also immer dann, wenn man tatsächlich mehr als nur zusehen kann.
Und Trotzdem geht es auch hier – wie meistens, wenn Menschen irgendwo involviert sind – um Emotionen:
Die Motivation: das Leben
Eric Darnell, Chief Creative Officer der Boabab Studios, einer der derzeit renommiertesten Firmen für VR Animations-Content, beschreibt seine Gedanken dazu in einem lesenswerten Interview in Variety zu dem VR-Film „Asteroids!“ sehr anschaulich:
“Imagine a little girl crying on a park bench. If you saw this in a film, you’d feel bad for her but you wouldn’t get out of your theater seat to console her. In a game, you’d talk to her to be a hero, get to the next level. In real life, you’d talk to her because you want to help. I believe that VR has the potential to have the empathy of films, the agency of games, and the motivation of life.”
VR allgemein vereint also das Beste aus Film, Gaming und der realsten aller Welten, dem Leben. In dieser Aussage wird allerdings noch mehr deutlich:
Für Eric Darnell ist der Hauptunterschied zwischen einem interaktiven VR-Film und einem Computerspiel die Motivation des Users, in einer bestimmten Weise zu handeln. Das ist direkt auf die Gefühlswelt des Zuschauers gerichtet: Ziel des VR-Filmes ist es, dass die User agieren, wie sie es in der richtigen Welt auch täten (oder sonst eben nie täten…), angetrieben durch Emotionen und Intuition, nicht um zu gewinnen oder eine „Quest“ zu erfüllen wie in einem Game.
Doch die Übergänge sind sehr fließend. Wie schwierig die Klassifizierung von VR-Erfahrungen ist, könnt ihr in einem meiner ersten Artikel nachlesen.
Um die Unterschiede zwischen interaktiven VR-Filmen und VR-Games besser zu verstehen, verlassen wir erst einmal die VR-Welt und gucken uns die klassischen „flachen“ Medien an:
Interaktion versus Dramaturgie
Ich hatte in der Einführung zu VR & Film ja bereits von dem Dilemma geschrieben, in dem VR-Filme, ja interaktive Filme allgemein, stecken. Ein Dilemma, das sich meiner Ansicht nach immer mehr zeigen wird, je weiter die Technik fortschreitet – sowohl beim Herstellen von VR-Filmen als auch beim Abspielen der Resultate auf den Endgeräten:
Je mehr die Zuschauer einer Welt glauben, je realistischer sie auf sie wirkt, desto größer wird das Bedürfnis nach Interaktionen. Und nicht nur das: auch das Bedürfnis nach „Agency“ kann steigen, also der Möglichkeit zum aktiven Handeln mit entsprechend fühl- oder sichtbaren Resultaten.
Warum ist das ein Dilemma? Nun, je mehr Interaktivität, desto mehr Möglichkeiten, dass die Geschichte einen anderen Ausgang nimmt. Spannung kann nicht mehr ohne weiteres aufgebaut werden, wenn der Zuschauer mit dem Toaster in der Ecke herumhantiert und ihn interessanter findet als das Monster, das auf der anderen Seite des Raumes auf ihn zukommt. Oder anders gesagt:
„Gute Geschichten sind in sich geschlossen. In der klassischen Erzählweise etabliert eine Geschichte nach wenigen Minuten ihren Grundkonflikt (…). Dieser bestimmt nun jegliches weitere Handeln und führt am Ende zu einer Auflösung. (…) Bei einer Aschenputtel-Geschichte geht es darum, dass das Mädchen ihren Traumprinzen findet – und am Ende gegen alle Widerstände mit ihm zusammen kommt. (…) Auch als Spiel wäre das durchaus denkbar – aber was, wenn man dem Spieler alle Freiheiten lässt? Wenn Aschenputtel lieber Finanzbeamtin wird, sie mit dem Goldschürfen beginnt oder plötzlich zum Zombie mutiert – dann wäre die Geschichte zerstört.“
Dennis Eick, „Digitales Erzählen – Die Dramaturgie der Neuen Medien“, UVK (2014), S. 115
Interaktivität und Dramaturgie ziehen also jeweils auf ihrer eigenen Seite des Taus. Beide sind erstrebenswert und doch sind sie zwei Antagonisten, die Game-Designer seit Jahren auf Trab halten und sie zu verschiedenen Lösungen für das Problem angeregt haben. Damit Aschenputtel nicht zum Zombie mutiert, wenn sie das möchte, sind die Freiheiten der Spieler immer begrenzt – nur geschieht die Begrenzung auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlichem Maß.
Erzählweisen in Film und Game
Damit es spannend wird: Ziele
Eine einfache, aber wirklich effektive Möglichkeit ist es, den Spielern ein Ziel zu geben. Es sollte natürlich möglichst erstrebenswert und aus der Geschichte heraus nachvollziehbar sein. Es ist wie im wahren Leben: Ich will unbedingt Berlinale-Filme sehen. Mein Ziel ist es, so viele Festival-Tickets wie nur irgend möglich zu bekommen. Um das zu erreichen, stürze ich mich in die große Schlacht um die Tickets – dafür stehe ich stundenlang an, trotze der Kälte, weiche den am Potsdamer Platz mitten im Weg stehenden Touristengruppen gekonnt aus, und quäle mich nach nur wenigen Stunden Schlaf aus dem Bett… Es wäre in dieser Situation ganz und gar nicht zielführend, statt zur Kino-Tageskasse ins Museum zu gehen. Damit ich gar nicht erst auf die Idee komme, könnte der Game-Designer meines Lebens also einfach entscheiden, dass alle Museen während der Berlinale geschlossen sind. Meine Freiheit wäre begrenzt, aber dafür bliebe meine Aufmerksamkeit bei meinem Ziel.
Auch im Film sind Ziele ein wesentlicher Teil der Dramaturgie, nur heißen sie dort eben nicht „Quests“. Manchmal sind diese Ziele weniger offensichtlich als in Games, aber es gibt durchaus auch Film-Genres, die ganz auf das Erreichen eines definierten Zieles zugeschnitten sind. Man nehme nur den Krimi (den Mörder finden), den Superhelden-Film (die Welt retten und die hübsche Frau gleich mit), und natürlich die Liebesschmonzette (Mensch des Lebens finden, heiraten, glücklich sein). Gerade solche Genres lassen sich deswegen sehr gut als Game, ob VR oder nicht, umsetzen, so wie es die Firma Telltale mit ihren interaktiven, meist in mehreren Episoden erzählten Abenteuern seit Jahren erfolgreich macht. Vielleicht lassen sich die Telltale Games sogar als sehr (aber wirklich sehr) fortgeschrittene interaktive Filme einordnen?
Die Menge macht’s: Proportionen in Filmen und Games
Man könnte auch die Proportionen zwischen interaktiven und nicht-interaktiven Szenen anführen, um interaktive Filme von Games zu unterscheiden. Die Grundstruktur ist sehr oft gleich: Wie Perlen einer Kette reihen sich die Szenen aneinander, wobei sich passive und aktive Szenen abwechseln. Das nennt mein schlaues Buch von Dennis Eick „Perlenkettenmodel“.
Allerdings ist die Menge der aktiven Szenen unterschiedlich, je nachdem, wie viel Freiheiten man den Spielern (oder Zuschauern) lassen möchte. Auch die Art der Szenen ist anders. In einem stark story-getriebenen Spiel ebenso wie in einem interaktiven Film findet man keine oder nur wenige, kurze Kampfszenen – stattdessen mehr Dialoge, Rätsel und Aufgaben. Ein Action-Spiel, bei dem es ums Kämpfen und Gewinnen geht, hat überdimensional lange Kampf-Szenen, deren relative Zeit gemessen an der Gesamtgeschichte sehr hoch ist. Sie sind allenfalls unterbrochen von wenigen kurzen Cut Scenes (film-artige, passive Sequenzen, die die Geschichte zusammenfassen oder Hintergrundinfos geben).
Proportionen spielen nicht nur beim Kämpfen eine Rolle. Filmdramaturg Frank Raki führt an, dass Games tatsächlich wie Filme klassische Akt-Strukturen aufweisen können. Auch Games beständen aus einem Anfang und einem Ende. Der Unterschied zu Filmen sei jedoch die Gewichtung, vor allem die des Beginns:
„Ein entscheidender Unterschied ist, dass Games den ersten Akt ihrer Geschichte gerne kurz halten. Ziel ist, schnellstmöglich in den eigentlichen Konflikt, in die Action zu kommen – und oft muss auch gar kein ausgeformter Charakter, sondern nur eine Spieler-Rolle exponiert werden.“
Dennis Eick, „Digitales Erzählen – Die Dramaturgie der Neuen Medien“, UVK (2014), S. 113
Warum wir mehr interaktive (VR-)Filme brauchen
Wenn statt eines Spielers ein ganzer Charakter mitsamt einer komplexen Persönlichkeit und eines sozialen Umfeldes etabliert werden muss, reicht eine kurze Eingangssequenz nicht aus. Und genau hier könnte doch der interaktive Film in Virtual Reality ansetzen und sein Alleinstellungsmerkmal finden: In Filmen sind die Hauptpersonen Charaktere, sie haben eine Vergangenheit, Wünsche, Ängste, Konflikte, Gedanken und Träume. Wenn es einem VR-Film gelingt, dass ein User voll und ganz in die Haut des Charakters schlüpft, so trifft genau das zu, was Eric Darnell oben gesagt hat: Man würde aus innerem Bedürfnis handeln, aus Empathie, motiviert durch die erlebte Situation.
Games als Lehrbuch für VR
Da es zwar ein paar Anhaltspunkte, aber keine klaren Unterscheidungs-Merkmale zwischen interaktivem Film und einem Game gibt, so müssen die Gemeinsamkeiten ja umso mehr sein. Tatsächlich profitiert jede VR-Erfahrung von Wissen aus jahrzehntelanger Erfahrung mit Video-Spielen:
„Games are to VR a little bit what theater was to movies. In some ways, VR is like the next evolution of games and we can begin to pull the basics of VR language from them: indirect control, environmental, and interactive design, etc. (…) Games are a great jumping-off point from which we can start figuring out the basics of VR and evolving from there.”
Robyn Tong Gray in Celine Tricart, „Virtual Reality Filmmaking – Techniques & Best Practices for VR Filmmakers“, Routledge (2018), S. 87
Wo kann der interaktive VR-Film hingehen?
Robyn Gray, die Mit-Gründerin von Otherworld Interactive, spielt mit ihrer Aussage auf im Game-Bereich sehr etablierte Formen an. Mir fallen ein paar ein, aber natürlich gibt es viel mehr:
(1) Da wäre zuallererst die Perspektive First-Person, bei der der User einen Körper, einen Avatar, bekommt und so nicht mehr als „Geist“ im VR Spiel – oder Film – herumhuschen muss. Derzeit ist das allerdings in VR noch recht schwierig umzusetzen.
(2) Robyn Gray nennt in obigem Zitat auch das Environmental Storytelling. Dies ist ein in Spielen sehr starkes Konzept, bei dem die Geschichte durch die Umgebung erzählt wird. Beispielsweise können kleine Mini-Narrationen wie Zeitungsartikel in die Dekoration eines Zimmers eingebaut sein. Man findet sie, wenn man sich genau umsieht. Auch wichtige Hinweise für die Geschichte (was ist passiert? wer bin ich?) und den Spielverlauf (was wird passieren?) werden sehr oft in die unmittelbaren Spielewelt integriert. So muss nicht jedes Mal mit Cut Scene gearbeitet werden. Insgesamt doch recht nachvollziehbar, wenn man aus dem Film kommt.
(3) Im Film unbekannt hingegen ist das Inventar: In vielen Games bekommt der Spieler ein Inventar mit nützlichen Dingen, die für die Lösung von Rätseln gebraucht werden – oder Waffen. Einige Items sind von Anfang an da, andere muss man sammeln oder erwerben. Es ist noch nicht so richtig klar, wie das Inventar eines „flachen“ Computerspiels am Geschicktesten in VR übertragen werden kann, aber natürlich gibt es schon viele Versuche. Das sehr narrative Spiel „The Gallery: Episode 1“ versucht es mit einem Sack, den man mit sich herumträgt und durch einen beherzten Griff hinter dem Rücken hervorholen kann. Im Zombie-Shooter „Arizona Sunshine“ drückt man die aufgesammelte Munition an den Gürtel. Es fühlt sich aber ein bisschen so an, als ramme man sich die Dinger jedes Mal in den Bauch…
(4) Neben dem oben genannten „Perlenkettenmodell“ gibt es bei Games auch noch den „Geschichtenautomaten“ (Dennis Eick, „Digitales Erzählen“, S. 110). Das könnte vielleicht irgendwann für den volumetrischen Film eine neue Art des Erzählens werden: Es sind offene Welten, in denen die Spieler agieren und selbst ihre Geschichte „finden“, wobei verschiedene Entscheidungen wieder zu anderen Situationen mit neuen Entscheidungen führen.
(5) Das führt unweigerlich zu umfangreichen Story-Bäumen, viele mögliche Verzweigungen der Geschichte zwischen Entscheidungspunkten, zu alternativen Enden. Das ist nun gar nicht neu und fasziniert Geschichtenerzähler aller Künste. 2016 hat beispielsweise die ARD ihre Fernsehzuschauer per App über das Ende des Filmes „Terror“ abstimmen lassen. Doch das war nur eine Interaktion mit zwei Möglichkeiten.
Es bleibt abzuwarten, wie die Gaming-Welt sich auch in VR-Filmen wiederfinden wird in der Zukunft. Ich denke, wir werden immer mehr davon sehen. Ein paar Erfahrungen stelle ich Euch in diesen beiden Beiträgen vor: interaktive Filme in VR und interaktive 360-Grad-Filme.
Celine Tricart, die Autorin des Buches „Virtual Reality Filmmaking“, nennt Virtual Reality jetzt schon „the missing link between Gaming and Cinema/Theater“ (S. 87). Ich könnte mir gut vorstellen, dass Eric Darnell da lebhaft zustimmen würde.