Interaktion in Virtual Reality? „Logisch, wie denn sonst” schnoddern die Gamer. “Oh je“ rufen die Filmemacher und kratzen sich ratlos am Kopf. So könnte man es sich vorstellen. Aber nein: Es gibt bereits einige sehr spannende Versuche, wie Interaktion in VR-Filmen aussehen könnte, und wie man die Zuschauerschaft mehr in die Handlung integrieren kann. Hier stelle ich Euch einige davon vor, die vor allem in Punkto Interaktion spannende Wege einschlagen. Und hey: Gleich zwei sind Made In Berlin!
Wie kann man ganz allgemein in einem VR- oder auch 360-Grad-Film mit seiner Umwelt in Kontakt treten? Es gibt viele Möglichkeiten: Bei kleineren Objekt-Interaktionen kann man beispielsweise auf einen Knopf drücken oder eine Tasse anheben. Geht man einen Schritt weiter, sind das Dialoge mit anderen Personen in der virtuellen Welt. Sehr stark wird die Interaktivität dann, wenn eigene Handlungen und Entscheidungen den weiteren Lauf der Geschichte beeinflussen.
Wenn Euch interessiert, was in Punkto Erzählweisen der Unterschied zwischen einem interaktiven Film und einem Game ist, dann lest meinen Artikel zu diesem Thema. Dort grabe ich mich ein bisschen in die Theorie ein.
Doch hier geht es um die Praxis: Was gibt es da draußen schon an VR-Erfahrungen, die mehr Film als Game sind – und trotzdem interaktiv?
Interaktive Filme in Virtual Reality
Die drei VR-Erfahrungen, die ich Euch hier näher bringen will, sind allesamt Erfahrungen in „richtiger“ Virtueller Realität. Sie bieten Interaktionsmöglichkeiten, die – bislang jedenfalls noch – weit über das hinaus gehen, was in einem 360-Grad-Film und mit einem mobilen Headset wie der Samsung Gear oder dem Cardboard möglich ist. Und zu meiner großen Freude darf ich Euch zwei vorstellen, die noch gar nicht veröffentlicht wurden! Also los: Es geht in die Vollen.
Found
Eigentlich ist der Film von Produktionsseite aus mehr als Showcase gedacht, um zu zeigen, was möglich ist, und um Erfahrung für andere VR-Filme zu sammeln. Deswegen darf man die Erwartungen nicht allzu hoch hängen. Hübsch ist es trotzdem.
Worum geht es?
„Found“ ist ein interaktiver Kurzfilm in Virtual Reality von 2016. Und ein kleines Stückchen Kunst. Wie „The Turning Forrest“, den ich Euch in meinem Artikel über interaktive 360-Grad-Filme genauer vorstelle, greift „Found“ das Motiv des Reisens auf. Am Anfang ist man in einem Zug zusammen mit unheimlichen, anonymen Mitreisenden. Doch bald schon findet man eine magische Welt außerhalb des düsteren Abteils.
Wo kann man es erleben?
Es gibt ihn im Oculus Store und auf Steam Early Access, für Oculus Rift und HTC Vive.
Welches sind die interaktiven Elemente?
Der Film strotzt nur so davon: Gleich in der ersten Szene kann man das Licht seines Handys als Taschenlampe nutzen und sich im Abteil umsehen. Später darf man sich mit einer Steinschleuder aus einem ei-förmigen Etwas befreien und kann Bäume und Blumen wachsen lassen. So hübsch das alles ist: Leider wird man damit etwas alleine gelassen. Man fragt sich, warum man all das tun soll. Und ähnlich wie der Youtuber in diesem LetsPlay-Video habe auch ich vergebens versucht, den Drachen mit meiner kleinen Schleuder zu treffen. Davon abgesehen ist die Welt wunderschön und es wurde viel Wert auf kleine Details gelegt. Man kann zum Beispiel mit den Armen die Weizenhalme auf dem Feld bewegen, was wirklich realistisch wirkt. Vom Gesichtspunkt des Storytellings allerdings hätten die einzelnen Aktionen der User meiner Meinung nach noch viel mehr Sinn für die Geschichte ergeben müssen. Wie gesagt: ein Showcase.
Kobold – UPDATE: jetzt erhältlich!
Ganz anders ist die Erfahrung „Kobold“. Sie ist Made In Berlin von der VR-Produktionsfirma AnotherWorld. Und sie ist ein visionäres Experiment, das die Grenzen von Film und Game, überhaupt von Film und VR, verschwimmen lässt.
Worum geht es?
Um einen kleinen Jungen, der von einem unheimlichen Wesen verfolgt wird. Dieses Wesen entstammt einer alten, deutschen Mythologie (weshalb man in der VR-Welt auch immer wieder unheimliches Wispern und Murmeln auf Deutsch hört, während die Experience ansonsten auf Englisch ist).
Was sind die interaktiven Elemente?
Vom Interaktivitäts-Grad her ist „Kobold“, zumindest der zweite Teil, ganz am oberen Ende der VR-Film-Experiences. Eigentlich ist es mehr Game als Film. Die VR-Welt ist voll interaktiv, das heißt man kann Objekte aufheben und benutzen, mit Kreide an die Tafel schreiben, von Zimmer zu Zimmer laufen – und vielleicht sogar sterben (wer weiß das schon im Vorhinein…?). Das Besondere ist, dass sich die Geschichte ändert, je nachdem, wie die User handeln, wo sie hingehen und welche Objekte sie nutzen.
Was ist das Interessante?
Die VR-Experience steht nicht für sich allein. Sie soll den Traum eines jeden Filmemachers und einer jeden Filmemacherin wahr werden lassen: Bringt die Zuschauer in den Film. Ob die das in diesem Fall auch so gerne wollen? Horror-Fans mit Sicherheit, denn „Kobold“ verspricht das perfekte Abenteuer zum Sich-Fürchten. Dafür hat das Team unter Ioulia Isserlis und Max Sacker einen Horror-Film von rund 15 Minuten Länge produziert. Dieser erste, filmische Teil von „Kobold“ hat ein offenes Ende. Ich habe ihn noch nicht gesehen, aber ich mir sehr, sehr sicher, dass er ganz schrecklich gruselig ist. Zuerst sieht man sich also den Film an, dann atmet man tief durch, trinkt einen Schnaps (vielleicht auch zwei) für etwas mehr Mut, anschließend wagt man sich in das virtuelle Haus: Als Hauptperson (oder Hauptopfer?) muss man herausfinden, was passiert, und so das Film-Ende selbst erspielen. Dabei tauchen Elemente und Personen aus dem Film auch immer wieder in der VR-Welt auf. Eine phänomenale Idee, die noch unterstrichen wird von dem Ansatz des „Cinematic Realism“: Alles soll so echt wie möglich wirken. Dafür wurde ein ganzes Haus in Brandenburg mittels Photogrammetrie gescannt, sowie alle Objekte darin und alle Charaktere digitalisiert, ihre Bewegungen mit Motion Capture eingefangen. Sogar Mimik und Gesten sollen so echt wie möglich erscheinen, das Ziel: die totale Immersion.
Dieser Trailer schneidet Bilder aus dem Film zusammen mit Bildern aus der VR-Erfahrung. Das zeigt noch einmal, wie eng die beiden Teile inhaltlich miteinander verknüpft sind. Die VR-Erfahrung ist nicht einfach nur ein kleines Extra zum Film, ganz im Gegenteil:
Wo kann man es erleben?
UPDATE: Seit November 2018 ist Kobold endlich erhältlich! Davor hat das Spiel unter anderem die BesucherInnen von Venice VR zum schreien gebracht (mich inklusive). Das erste Kapitel ist zu finden bei Steam, im Oculus Store und auf Viveport – mehr Infos gibt es auf der Website. Allen, die sich weder vor Kobolden noch vor Spoilern fürchten und einen kleinen Blick erhaschen möchten, sei dieses exklusive LetsPlay-Video von Bruugar empfohlen. Ich finde, er schlägt sich sehr tapfer!
Home After War
Dass nicht nur Fiction in VR interaktiv sein kann, beweist diese VR-Dokumentation der ebenfalls in Berlin ansässigen Firma NowHereMedia.
Worum geht es?
Das Thema ist ein hartes: Nach zwei Jahren unter IS-Herrschaft wurde die irakische Stadt Fallujah 2016 zurück erobert. Die zuvor vertriebenen Bewohner und Überlebenden des Krieges kehren seitdem nach und nach in ihre Heimat zurück. Jedoch hatte der IS, bevor er sich zurückzog, überall – auch in Wohnhäusern – Sprengkörper installiert. Tragischerweise wurden die meisten davon noch immer nicht gefunden, die Räumtrupps priorisieren zunächst die Wiederherstellung der Infrastruktur wie Straßen und Stromleitungen. Das macht die Rückkehr für die Menschen extrem gefährlich, manchmal tödlich. Die Bewohner führen die Zuschauer in der VR-Erfahrung nun durch ihre Häuser und erzählen ihre Geschichten.
Was sind die interaktiven Elemente?
Da die VR-Erfahrung noch gar nicht fertig ist und sich aktuell noch in der Postproduktion befindet, kann sich hier noch einiges ändern. Ich habe sie entsprechend auch noch nicht sehen können. Allerdings haben mir Regisseurin Gayatri Parameswaran und Creative Producer Felix Gaedtke am Rande der Berlinale vom aktuellen Stand des Projektes erzählt: Zunächst hatten sie recht viele Interaktionen geplant. Doch dann wuchs die Sorge, dass die Elemente zu verspielt wirken könnten, von der starken Geschichte ablenken und den grauenvollen Erlebnissen der Protagonisten nicht gerecht würden. So setzten sie die interaktiven Elemente sparsamer ein. Und dennoch wird ihre Dokumentation interaktiv sein: Beispielsweise wird die Hauptperson, der Hausbesitzer, erst sprechen, wenn man ihn ansieht. So etwas scheint eine Kleinigkeit zu sein, doch ist es extrem wichtig, wie ich finde. Würde jemand in der realen Welt beginnen, von seinem tragischen Schicksal zu berichten, wenn das Gegenüber desinteressiert ganz woanders hinschaut? Eher nicht. Einige der Sprengsätze in den Häusern wurden im Übrigen durch das Betätigen eines Lichtschalters aktiviert, und auch das wird eventuell als Interaktion in der Erfahrung vorkommen. Außerdem gibt es einige Audio-Sequenzen, die erst durch die Handlungen der User aktiviert werden.
Was ist das Interessante?
Die ganze Experience wird nicht nur interaktiv, sondern auch begehbar sein. In Kombination ist das für ein dokumentarisches Format außergewöhnlich. NowHereMedia hat dafür das ganze Haus im Irak mittels Photogrammetrie gescannt (Photogrammetrie-Partner: realities.io), so dass man sich später in VR darin bewegen kann. Die Protagonisten wurden mit Green Screen gefilmt und können so während der Postproduktion in die gescannte Umgebung eingefügt werden. Den starken räumlichen Eindruck verstärkt Spatial Sound, so dass man immer etwas anderes hört – je nachdem, wo man sich befindet.
Wo kann man es erleben?
Leider noch nicht so bald, da zunächst noch eine Festivalauswertung angedacht ist. Danach wird es im Oculus Store für die Rift erscheinen, denn das Projekt ist Teil von Oculus‘ „VR For Good“-Initiative. Ich halte Euch auf dem Laufenden.
Interaktionsarten in VR
Von technischer Seite her muss Interaktion nicht unbedingt so aufwendig sein wie in den obigen Experiences: In vielen Fällen und insbesondere bei 360-Grad-Filmen steuert man Objekte, mit denen man interagieren möchte, mit dem Blick an. Dann erscheint ein kleiner Kreis oder eine kleine Hand oder sonst eine Figur und nach einer kurzen Wartezeit geht es weiter. Manchmal besteht die Interaktion auch aus einer Kopfbewegung, einem einfachen Tippen auf ein Touchpad oder dem Betätigen des Triggers. Praktische Beispiele dazu in meinem Artikel über 360-Grad-Erfahrungen mit Interaktion. Bei den oben vorgestellten VR-Experiences in den Highend-Brillen übernehmen Controller-Befehle diese Funktion. Und sogar mit Sprachsteuerung wird derzeit experimentiert. Das alles sind bewusste Interaktionen.
Es geht auch unbewusst: In „Dear Angelica“ (Oculus Rift) verändert sich wohl die Zeichnung, je nachdem, wie nah der User ihr kommt. Um ehrlich zu sein: Das habe ich gar nicht bemerkt (so unbewusst) und es erst vor Kurzem in einem meiner schlauen Bücher gelesen. Oculus-Besitzer, probiert es doch mal aus und schreibt mir! Theoretisch denkbar ist auch eine Beeinflussung der Geschichte durch Körpersignale (Puls, Schweiß, Augenbewegungen, Mimik…). Nicht alles ist schon technisch so ohne weiteres möglich, aber das ist sicher nur eine Frage der Zeit. Ob man solch sensible Daten neben allem anderen auch noch erfassen lassen möchte, das ist eine andere Diskussion.
Fazit
Die Welt der interaktiven Roomscale VR-Erfahrungen wird zur Zeit noch sehr von Games dominiert. Doch mehr und mehr interessiert sich auch die Filmwelt für die unendlichen und kreativen Möglichkeiten von VR und zeigen dabei das enorme Potential. Ich denke, die vorgestellten Beispiele zeigen das deutlich. Auf den großen Festivals erscheinen immer mehr interaktive Experiences wie der mit großer Spannung erwartete Film „Awake“. Hoffentlich finden sie auch bald ihren Weg in die Stores, damit sie ein größeres Publikum erreichen. Und allerspätestens, wenn mehr volumetrische Filme entstehen, wird der (interaktive) VR-Film wohl ein eigenständiges Genre werden.
Ich als Film-Fan könnte mir nichts Schöneres vorstellen.
Ein Gedanke zu „Interaktive Filme in Virtual Reality“