Wie macht man einen Dokumentarfilm in 360-Grad?

Gespräch mit der Regisseurin Ricarda Saleh zu ihrem Film „Lionhearted“

Vor Kurzem hat mir Ricarda ihren Abschlussfilm gezeigt. Er hat mir so gut gefallen, dass er die neue Rubrik WERKSCHAU eröffnet. Darin mache ich mich auf die Suche nach Tipps aus der Praxis und darf 360-Grad- und VR-Autoren jede Menge Löcher in den Bauch fragen.

Unser Gespräch findet Mitte Juli 2017 in Berlin statt. Wir sitzen in einem Café, draußen scheint die Sonne. Von links klappert die Bedienung mit frisch gewaschenem Besteck, rechts lachen zwei junge Frauen mit halb vollen Weingläsern vor sich. Es ist recht laut um uns herum, hoffentlich schafft das mein Handy-Diktiergerät. Egal, wir legen los.

„Lionhearted“ ist ein schöner Name, finde ich, denn in dem Film geht es um ein kleines Mädchen mit dem Herz einer Löwin. Ricarda erzählt mir, dass Rida, so heißt das Mädchen, aus Pakistan stamme. Dort wurde ihre Familie religiös verfolgt und von den Taliban bedroht. Sie mussten schließlich fliehen und leben nun in Athen, in einem, wie Ricarda es nennt, Vakuum, dem zähen Warten im Asylverfahren. Mit ihrem 360-Grad-Dokumentarfilm wolle sie den Zuschauern ermöglichen, einen Einblick zu bekommen in den Alltag und in die Welt von Rida.

Und tatsächlich ist der Ort, an dem Rida mit ihrer Familie in Athen lebt, ein ganz besonderer: Es ist keine Container-Stadt für Flüchtlinge, keine Turnhalle mit Stockbetten und provisorisch gezogenen Wänden. Stattdessen ein altes Hotel mit dem klangvollen Namen „Hotel City Plaza“.

Das Hotel City Plaza und Location-Scouting für 360-Grad

VR GESCHICHTEN: Wie hast Du das Hotel gefunden?

Ricarda: Ich war letztes Jahr Ende August in Griechenland zunächst für zwei Wochen auf Recherche-Reise, bevor wir eine Woche lang im Team gedreht haben. Mein Ziel war es, in meinem Film die Flüchtlingsproblematik zum Thema zu machen. Und ich wollte aus der Sicht eines Kindes erzählen, am Liebsten aus der eines Mädchens. Bevor ich hinfuhr, hatte ich bereits ein paar Kontakte zu NGOs, aber ich kannte das Hotel City Plaza noch nicht. Während der Recherche habe ich mir ein paar Flüchtlingscamps angesehen und bin schließlich auf die besetzten Häuser gestoßen. Eines davon ist das Hotel City Plaza.

Was ist der größte Unterschied zu den anderen, offiziellen Flüchtlingsunterkünften?

Das Hotel City Plaza ist sieben Stockwerke hoch und wurde 2004 für die Olympischen Spiele gebaut. Im Jahr 2010 wurde das Hotel geschlossen und stand dann einige Jahre leer, wie übrigens viele andere Immobilien der Olympia-Bubble auch. 2016 hat eine Solidaritätsgruppe, gemischt aus Griechen und Geflüchteten, es besetzt und mehrere geflüchtete Familien eingeladen, dort zu leben. Es war von Anfang an klar, dass die Geflüchteten das selbst gestalten sollten. Die Bewohner haben also Pflichten, es gibt einen Küchendienst, einen Kochdienst, einen Sicherheitsdienst, der an der Tür steht. Es hat mich total beeindruckt zu sehen, dass es in einem Land, das wirtschaftlich so tief in der Krise steckt wie Griechenland, so eine Bewegung gibt. Sie sagen sich: Reclaim the spaces. Wir kreieren jetzt Projekte, die funktionieren, wir machen jetzt einfach mal.

Die Räume des Hotels haben in Deinem Film ja fast eine eigene Rolle. Ich denke da an die erste Szene: Man steht in einem ziemlich normalen Schlafzimmer – und es wird erst später so richtig klar, dass man eigentlich in einer Flüchtlingsunterkunft ist. Worauf hast Du bei der Auswahl eines Raumes als Drehort geachtet?

Beim Location-Scouting habe ich danach geschaut, ob der Ort spannend in 360-Grad ist, oder ob er zu eng ist. Dann fühlt man sich schnell unwohl, finde ich. Häuser wirken auch teilweise ganz anders in 360-Grad, Häuserfronten zum Beispiel. Wenn man da die Kamera zu nah positioniert, wirkt es, als stürzten sie auf einen ein.

Spannend in 360-Grad heißt für mich, dass es dem Zuschauer einen Mehrwert bietet, diesen Ort in mehr als nur 180-Grad zu sehen.  Also dass es spannend ist, wenn man nach vorne guckt. Aber ist auch etwas zu sehen, wenn man sich umdreht? Oder ist da nur eine Wand?

Noch ist der Film nicht veröffentlicht, deswegen hier mit dem Trailer erst einmal ein kleiner Vorgeschmack.

Die Vorbereitung: Szenen theoretisch durchspielen

Es war ja Dein erstes 360-Grad-Filmprojekt. Wie hast Du Dich darauf vorbereitet?

Ich habe mich vorab in der Theorie damit beschäftigt und mir überlegt, wie ich den Raum dort erzählen könnte. Dabei habe ich für mich ein theoretisches Konzept, so eine Art Tool, entwickelt und es „VR Chart“ genannt. Es ist ein kreisförmiges Schema, in dem ich skizziert habe,  wie die ideale Blickrichtung abläuft, also die Interaktion. Ich habe das auf den Theorien von Jessica Brillhart von Google VR aufgebaut. Zum Beispiel (sie nimmt ihr Kaffeetasse, den Löffel und einige andere Dinge vom Tisch und legt sie im Kreis vor sich) ist hier der Eingang zu dem Raum, die Tür, und dort ist ein Fenster, der Rest sind Wände. Ein Teil dieses Raumes ist das aktive Feld. Vor der Tür ist außen eine Treppe. In der Szene geht es jetzt also darum, dass der Zuschauer etwas findet und dass sein Blick anschließend in einen anderen Bereich des 360-Grad-Raumes gelenkt wird.

Praktisch wäre das dann so: Das Mädchen kommt durch die Tür in den Raum hinein, dann läuft sie in Richtung des Fensters und macht dabei ein Geräusch z.B. mit einer Rassel. Dann klettert sie durch das Fenster hinaus, Ende der Szene. Bei diesem Beispiel würde die Kamera in der Mitte des Raumes stehen. Das würde bedeuten, dass man hört, wenn das Mädchen draußen die Treppe herunterkommt und durch die Tür kommt. Selbst wenn man gerade irgendwo auf ein Plakat an der Wand schaut. Im Idealfall wird der Blick dann zur Tür gelenkt. Mit solchen Ideen habe ich mich vorbereitet und überlegt, wie ich die Personen einführen kann, wie ich eine Szene inszenieren kann. Diese Konzepte konnten wir im Prinzip in jeder Szene einbauen.

Das war auch für mein Team wichtig, denn wir kommen alle aus dem Filmbereich. Durch meine theoretische Vorarbeit hatten wir die gleichen Begriffe und wussten, was ungefähr das Ziel der Szene war. Allerdings war es ja ein dokumentarisches Projekt, uns war also auch bewusst, dass das nur ein Schema war. Was genau passieren würde, wussten wir nicht.

Kreisförmiges Schmema einer 360-Grad-Szene, bei der der Blick mittels Geräuschen und Bewegung gelenkt wird.
Skizze, die ich mir für ein besseres Verständnis gemacht habe, während Ricarda erzählte. Ricardas VR Charts sehen aber viel professioneller und durchdachter aus. Und bunter.

Der Dreh: Emotionale Momente in 360-Grad erschaffen mittels Kamera-Positionen

Du hast ja auch eine tolle, kleine Protagonistin, die die Geschichte erzählt. Ab einem gewissen Punkt im Film filmst Du auch tatsächlich nur noch aus einer niedrigeren Kameraposition. Ab da finde ich es richtig spannend, denn man sieht alles aus der Sicht eines Kindes. Die Räume sind auf einmal viel größer, die Tische sind größer, weil „ich“ ja viel kleiner bin. Das war für mich ein Aha-Effekt im Film. Wie bist Du dahin gekommen?

Nicht in jeder Szene ist Rida zu sehen. Sie hält aber den Erzählstrang zusammen, da man sie dann auf der Audioebene aus dem Off hört. In einigen Szenen, in denen Rida im Bild ist, ist man auch sehr nah bei ihr. Da habe ich die Kamera bewusst in einer nahen Entfernung zu ihr platziert, weil ich finde, 360-Grad ist nur emotional stark, wenn man den Protagonisten auch nah ist. Wenn mir jemand in einem 360-Grad-Film eine todtraurige Geschichte erzählt, diese Person ist aber zwei Meter entfernt, dann hat das für mich nicht den gleichen Effekt, als wenn sie nur einen halben Meter entfernt ist. So hat man nämlich wirklich das Gefühl, als könne man diese Person anfassen.

 Ich habe mich gefühlt, als sei ich eine imaginäre kleine Freundin von Rida, die von ihr an die Hand genommen und durch ihre Welt geführt wird.

Ja genau. Im Prinzip ist das bei Dreh passiert. In ein paar Szenen, zum Beispiel, wenn Rida auf dem Bett sitzt, war schnell klar: Wenn wir die Kamera nicht auf Ridas Höhe positionieren, ist es nicht möglich, ihr in die Augen zu schauen. Das In-die-Augen-Schauen war aber notwendig, damit der Zuschauer diesen intimen Moment erleben kann. Bei einer hohen Kamera-Position hätte man wie ein Erwachsener von oben auf sie hinuntergeblickt. Das wäre nicht der gleiche Effekt gewesen.

Allerdings haben wir auch erst im Schnitt etwas ganz Wichtiges bemerkt: Da gibt es eine schöne Szene im Hotelflur. Rida kommt rein und guckt in die Kamera, dann klettert sie das Geländer hoch, dann läuft sie wieder weg. Die ganze Zeit steht die Kamera auf normaler Erwachsenenhöhe. Dann schneiden wir in der nächsten Szene wieder auf die niedrigere Höhe von Rida. Dieser Schnitt und somit der abrupte „Höhenwechsel“ kreiert ein komisches Gefühl. Das war eine Lektion, die wir im Team mitgenommen haben. Im Schnitt konnten wir die Höhe der Kamera natürlich nicht mehr ändern.

Das heißt, das würdest Du beim nächsten Film anders machen?

Ja, auf jeden Fall. In der Theorie war uns schon bewusst, dass es einen Unterschied macht, auf welche Höhe wir die Kamera setzen. Aber dann beim Dreh haben wir das einfach nicht in jeder Einstellung beachtet. Uns war schlicht nicht bewusst, wie krass am Ende der Effekt ist, wie stark sich die unterschiedlich hohen Positionen der Kamera auswirken. Das war eine große Erkenntnis im Schnitt. Neulich hatte ich einen 360-Grad-Dreh in Hamburg. Da habe ich die Höhe der Linsen wirklich ganz genau ausgemessen, richtig mit einem Maßband, und mir alles akribisch aufgeschrieben.

Die Arbeit mit Protagonisten in 360-Grad

Beim Dreh einer 360-Grad-Doku gibt es ja einen großen Unterschied zum traditionellen Dreh: Das Team ist nicht „hinter“ der Kamera und kann nicht mit den Protagonisten interagieren. In Deinem Fall war Rida also ganz alleine mit der Kamera. Wie hast Du beim Dreh mit ihr gearbeitet?

Erst muss man vielleicht sagen, dass Rida, die damals 8 war und mittlerweile 9, ein unglaublich kluges Kind ist. Ich konnte mich beim Dreh größtenteils auf Englisch mit ihr unterhalten – zur Not auch mit Händen und Füßen. Vor dem eigentlichen Dreh habe ich mit der Theta S ein paar Test-Drehs gemacht. Für Videos hat die eigentlich eine zu geringe Auflösung, aber für Prototypen ist es okay. Das Ziel dabei war, dass Rida versteht, dass die Kamera mehrere Linsen hat und in alle Richtungen aufnimmt. Und auch, dass wir als Team gar nicht im Bild sein wollen. Wir sind in den Park gegangen, da waren auch ihre Eltern dabei, und haben die Kamera irgendwohin gestellt. Dann habe ich Rida erklärt: Da drüben ist ein Baum, da kannst Du Dich hinter verstecken und dann rauskommen. Wir machen jetzt die Kamera an, dann laufen wir alle weg und verstecken uns. Du bist dann die einzige, die noch hier ist.

Ricarda erklärt Rida etwas und zeigt auf die Kamera. Das Team und die Kamera stehen vor ihnen.
Rida, Ricarda und das Team beim Dreh  (© Ricarda Saleh)

Wie hast Du die Szenen im Film vorbereitet?

Das Drehen mit Rida war insgesamt ein gemeinsames Spiel. Ich habe natürlich nach Momenten gesucht, die emotional sind. Dafür habe ich Rida erklärt, in welchen Teilen des Raums sie sich bewegen kann. Aber wir haben auch ganz unterschiedliche Sachen ausprobiert und ganz frei gearbeitet. Ein Beispiel ist die erste Szene des Filmes (Rida ist alleine in dem Zimmer, das sie mit ihren Eltern im Hotel bewohnt, Anm. VR GESCHICHTEN): Ich wollte damals eine Einstellung drehen, in der man einfach nur Rida in diesem Zimmer sieht. Rida hatte aber eine andere Idee. Wir haben sie dann machen lassen. Allerdings hatten wir keine Ahnung, was genau sie tut, weil wir im Nebenraum waren, um nicht im Bild aufzutauchen. Wir haben die Szene erst hinterher beim Quick-Stitchen gesehen: Aus ihrer Perspektive erzählt Rida darin ihren Alltag. Sie tut so, als würde sie schlafen, dann steht sie auf, dann fährt sie mit dem Bus zur Schule und dann isst sie. Das war ihr eigener Impuls, ein ganz ehrlicher Moment, den ich so überhaupt nicht geplant hatte. Klar, ihr ist bewusst, dass wir das gerade filmen, aber andererseits ist sie auch ganz mit ihrem kindlichen Spiel beschäftigt. Solche Momente hatten wir ein paar Mal. Es war ein Wechselspiel zwischen meinen Impulsen als Regisseurin und den Freiheiten der Protagonistin.

Da fällt mir eine andere Szene ein, relativ am Ende: Man steht in einem Gemeinschaftsraum und von vorne kommt ein Kind und starrt ganz neugierig in die Kamera, starrt also mich an. Und dann drehe ich mich um und hinten steht auch ein Kind und starrt. Da habe ich mich das erste Mal nicht als Freundin von Rida gefühlt, sondern doch als Eindringling in diese Welt. Das war eine starke Szene, die sehr gut im 360-Grad-Medium wirken konnte. Hast Du das so geplant?

Wir haben dort recht viele Aufnahmen gemacht und konnten viele davon gar nicht verwenden, weil die Kinder viel zu nah an die Kamera herangegangen sind oder sie angefasst haben. Das eine Mädchen hatte ich gebeten, etwas auf die Kamera zuzugehen. Aber das andere Kind, das auch die ganze Zeit in die Kamera guckt, das war einfach da und neugierig.

Trotzdem kann ich natürlich durch die Stitching-Probleme auch nicht einen Dokumentarfilm drehen in der Art „ich schau mal, was passiert“. Da kann es dann am Ende passieren, dass ich nicht stitchen kann. Das muss man als 360-Grad-Filmemacher immer im Kopf behalten.

Ich oder Nicht-Ich? Präsenz-Gefühl in 360-Grad erzeugen

In dieser Szene mit den zwei Kindern von beiden Seiten ist die Präsenz sehr stark, man fühlt sich leibhaftig vor Ort. Hast Du Dich mit dem Konzept der Präsenz denn im Vorfeld beschäftigt?

Ja, mir war sehr wichtig, dass man nicht die Fliege an der Wand ist. Emotional funktionieren 360-Grad-Filme nur mit Präsenz, finde ich. Wir wollten, dass sich die Zuschauer als Besucher fühlen. Es gibt ja so Versuche von 360-Grad- und VR-Regisseuren, bei denen man einen grauen Körper oder ein paar Hände hat. Das haben wir bewusst nicht gemacht, weil wir davon nicht sehr überzeugt waren und es auch zu viel Aufwand gewesen wäre. Deswegen haben wir einen Mittelweg gewählt: Du hast keinen sichtbaren Körper, aber Du bist als Person vor Ort. Für den Dreh haben wir das dann berücksichtigt. Denn um eine Präsenz zu erzeugen, brauchten wir immer wieder Momente, in denen die Protagonisten direkt in die Kamera schauen oder mit ihr interagieren.

„Boys, hide!“ – Wenn sich das ganze Filmteam verstecken muss…. Amüsante Szene hinter den Kulissen von „Lionhearted“

Nach dem Dreh: Stitching oder das große Puzzeln

Noch ein bisschen Grundlagenwissen zum Stitching, also dem manuellen Zusammenfügen der einzelnen Kamerabilder zu einer Rundumsicht. Wie lief das und wie muss man dafür drehen?

Wir haben monoskopisch mit zehn aneinander befestigten GoPros gedreht, zwei Linsen nach oben gerichtet, eine nach unten und sieben rundherum auf der Waagerechten. Mit so vielen Kameras ist es einfacher zu drehen als mit wenigen. Man hat zwar mehr Material, aber das Stitching ist einfacher als mit weniger Kameras. Dadurch, dass sich die Bilder der Linsen so stark überschneiden, hat man später im Schnitt die Möglichkeit, das Bild einer Kamera herauszunehmen. So kann man im Prinzip selbst entscheiden, wo genau die Stitching-Kante liegt.

Trotzdem war es nicht möglich, dass Protagonisten ganz nah auf wenige Zentimeter an die Kamera herangehen. Das hätte sonst einen Fehler wie eine unschöne Linie durch das ganze Gesicht gegeben. Die Protagonisten mussten also immer einen Mindestabstand einhalten. Gleichzeitig durften sie zwar durch die Stitching-Kanten gehen – bei schnellen Bewegungen nimmt man das als Zuschauer dann zwar wahr, aber es stört nicht.  Allerdings durften sie sich nicht für längere Zeit genau an der Kante aufhalten, das kann man dann auch in der Postproduktion nicht mehr retten. Wir hatten zum Beispiel eine sehr schöne Szene mit Rida auf dem Balkon. Allerdings waren da ihre Beine unter dem Stativ, das hätten wir niemals retuschieren oder nachbilden können.

Wir hatten beim Dreh zwar technische Markierungen für die Kamera auf dem Boden, aber keine Markierungen für Rida. Das hätte sie eingeschränkt, zu streng sollte es nicht sein. Ich bin allerdings vorher mit ihr den Raum um die Kamera herum abgelaufen, damit sie versteht, wo genau sie sich bewegen kann.

Zehn GoPros aneinander befestigt filmen das 360-Grad-Bild einer Athener Straße.
Der Kameraaufbau: zehn GoPros bilden zusammen 360-Grad ab (© Ricarda Saleh)

Keine Angst vor Experimenten: Bildsprache in 360-Grad

Lass uns noch über die wohl emotionalste Szene des Filmes sprechen. Rida erzählt darin von der Flucht über das Meer in einem kleinen Boot und ihre riesige Angst, dort mitten in der Nacht im Wasser zu ertrinken. Während man das hört, ist man inmitten von dunklen Wellen, die nach und nach immer höher steigen und ein sehr beklemmendes Gefühl auslösen. Es ist gleichzeitig die einzige animierte Szene im ganzen Film. Warum hast Du sie so und nicht anders gemacht?

Ich wollte diesen Moment ganz klar betonen und dem Zuschauer die Möglichkeiten geben, sich auf die Erzählung von Rida zu einzulassen, die man aus dem Off hört. Es sollte so wenig Ablenkung auf der visuellen Ebene wie möglich geben. Erst einmal haben wir es mit ruhigen 360-Grad-Bildern versucht, in denen man nur das Hotel oder die Umgebung sieht. Aber sonst passierte dort nichts außer dem Gesprochenen auf der Ton-Ebene. Wir haben es auch nur auf Schwarz versucht, also komplett ohne Bild und nur mit Ridas Stimme. Das hat beides nicht funktioniert. Bei dem Schwarz haben die Leute gedacht, es sei ein Filmfehler, und sich die ganze Zeit auf der Suche nach dem Bild umgeschaut. Und in der VR-Brille ist Schwarz ja auch nie Schwarz, man sieht ja die Ränder des Displays und der Brille. Das ruhige, dokumentarische Filmmaterial hat auch nicht richtig geklappt. Auch da haben die Leute nach etwas gesucht, etwas, das passiert. Also haben wir angefangen zu experimentieren, wir haben zum Beispiel gedrehtes Material farblich entfremdet. Aber wir hatten keine Szene, die dem Erzählten gerecht geworden ist. Diese Stelle sollte sich von dem Rest des Filmes abheben. So haben wir schließlich die Idee mit der Animation gehabt.

Das klappt wirklich gut, ich habe richtig nach Luft geschnappt. Eben weil die Animation genau das auf unschöne Weise erfahrbar macht, was Rida erzählt. Im Dokumentarfilm spricht man ja oft davon, dass Bild und Ton nicht die gleiche Information transportieren sollen, die bekannte Text-Bild-Schere. Bei VR scheint diese Regel außer Kraft zu sein, oder?

Ich denke, dass es da für VR keinen „richtigen“ oder „falschen“ Ansatz gibt. Die Animationsszene, die die Angst visuell illustriert, löst starke Emotionen bei den Zuschauern aus. Aber das gilt vielleicht nur für diese Szene. Gleichzeitig haben wir ja auch andere Momente im Film, wo man etwas anderes hört als sieht. Rida steht zum Beispiel in Gedanken versunken abends auf dem Hotel-Dach, es ist eine schöne, fast romantische Szene im Sonnenuntergang. Dazu erzählt sie aus dem Off, wie sie und ihre Familie brutal von den Taliban verfolgt wurden und wer diese Taliban aus ihrer kindlichen Sicht eigentlich sind. Ich denke, dass VR insgesamt viel Raum für Experimente und auch Widersprüche in der Bild-Text-Ebene bietet. Daher würde ich anderen VR-Creatern raten, mutig mit dem Medium umzugehen.

Zuschauer-Tests und die Frage der Blick-Regie

Was war denn für Dich bei diesem ganzen Projekt der erste große Wow-Effekt?

Als wir den ersten Rohschnitt fertig hatten, wollten meine Editorin, Elena Schmidt, und ich einmal testen, wie viel überhaupt bei den Zuschauern hängen bleibt. Wir waren wirklich besorgt, dass die Zuschauer viele Dinge in diesen 360-Grad nicht mitkriegen. Es ist ja tatsächlich so, dass jeder Mensch so einen Film anders wahrnimmt und auf andere Dinge achtet.  Für unseren Test hatte ich also ungefähr 15 Leute eingeladen und ihnen den Film gezeigt. Danach habe ich Ihnen bestimmte Fragen gestellt:  An was kannst Du Dich noch erinnern? Was war der letzte Satz im Film? Was wurde Dir über das Hotel erzählt? Wir waren dann sehr erstaunt, dass sich die Leute an extrem viel erinnern konnten, sie konnten die Handlung richtig nacherzählen. Das hatten wir so überhaupt nicht erwartet. Das hieß für uns auch, dass die Leute tatsächlich dahin geschaut hatten, wo wir wollten, dass sie hinschauen.

Es gibt ja mehrere Möglichkeiten des Lenkens, Du hast schon Bewegung und Sound angesprochen.

Ja, und auch im Schnitt. Man kann beispielsweise vorhersagen, dass der Großteil der Leute am Ende der einen Szene auf die Tür schauen wird. Also schneiden wir die nächste Szene so, dass die Handlung dort beginnt, wo vorher die Tür war. Oder auch genau 180 Grad entfernt.  Jessica Brillhart hat das super beschrieben: Die Handlung soll eher zwischen den Augenwinkeln passieren, so kann man besser lenken. Dann müssen sich die Leute nicht ständig umdrehen. (Wer mehr wissen möchte über Jessica Brillhart und ihre Erfahrungen, findet unten ein Video. Anm. VR GESCHICHTEN)

Welche Erkenntnis würdest Du am Ende unseres Gesprächs noch gerne weitergeben?

Filmisch wird ja meistens auf der Waagerechten erzählt. Was oft vergessen wird, ist die Senkrechte. Da gibt es ganz viele Optionen, zum Beispiel fliegt ein Vogel vom Boden in den Himmel. Das wird leider erzählerisch noch viel zu wenig genutzt und auch in meinem Film spielt sich das meiste noch horizontal ab.

Insgesamt finde ich es ganz wichtig bei 360-Grad-Filmen, egal bei welcher Art von Erlebnissen, dass man dem Zuschauer am Anfang erklärt, wie der Film erzählt wird. Also in welchem Tempo man erzählt, oder dass auch etwas hinter dem Zuschauer passieren kann, nicht nur vor ihm. Man muss als Filmemacher dafür sorgen, dass der Zuschauer ankommt im Film und nicht die ganze Zeit unruhig ist und sich mit der Erzähltechnik beschäftigt. Man sollte ihn in einer angemessenen Form an die Hand nehmen und sich entscheiden, ob man viel oder wenig Aktion von ihm erwartet, ob er sich viel drehen muss oder man einen langsameren Flow hat. Man muss einen 360-Grad-Film also viel mehr als UX-Erfahrung sehen und ein Erlebnis schaffen.

 

Über Ricarda Saleh:

Ricarda hat an der University of Sussex und an der Filmakademie in Ludwigsburg studiert. Da 1991 geboren, kann man sie guten Gewissens als eine der „jungen Wilden“ im Medien Business bezeichnen. Sie arbeitet als Regisseurin, als Game-Designerin und als Fotografin. Sich selbst hat sie einmal so beschrieben „Ich möchte die Welt retten, befinde mich jedoch im Cha-Cha-Cha-Modus. Ich würfle Medien, Materialien, Dramaturgien wild zusammen. Ich mag Bleistifte und meinen Füller. Ich stelle gerne Fragen.“

Ricarda und ich sind uns vor einigen Jahren auf einer Konferenz begegnet. Seitdem laufen wir uns mit ziemlicher Regelmäßigkeit über den Weg. Deswegen war ich umso neugieriger, als sie mir von ihrem ersten 360-Grad-Film erzählte. Wer mehr über Ricarda wissen möchte oder sie kontaktieren will, findet alle Infos auf ihrer Website. News zu „Lionhearted“ gibt es auf dem eigens erstellten Film-Blog.

Das Team von "Lionhearted", aufgenommen nach Drehschluss in Griechenland.
Das „Lionhearted“-Team (v. l.n.r.) Reihe hinten: Christos Koumaradios (Regieassistenz), Konstantinos Tsaras (360° Continuity), Marcus Fass (Sound Design); Reihe Mitte: Ricarda Saleh (Regisseurin), Protagonistin Rida, Jan Fiess (Set-Stitcher); Reihe unten: Malte Stehr (Producer), Michael Throne (Kamera & Grading);  nicht auf dem Bild: Elena Schmidt (Montage), Enzio Probs (Animation), Mahmoud Hisham (Lead TD)  (© Ricarda Saleh)

Und wer noch mehr wissen will:

Ein sehr amüsanter und absolut sehenswerter Talk von Jessica Brillhart aus dem letzten Jahr. Sie erklärt darin ihr Konzept der „crazy damn blue circles“ und wie man am besten schneidet in 360-Grad-Videos:


Ein Artikel über das Hotel City Plaza, veröffentlicht in der Süddeutschen Zeitung im Mai 2017.

 

Veröffentlicht von Pola Weiß

#Diplom-Psychologin #Filmtante #Kino-Binge-Gängerin #Fernseh- und Online-Redakteurin ## Ich liebe gut erzählte Geschichten, egal wo. Während meiner spannenden Arbeit als Medienarbeitsbiene (u.a. für SWR und arte) bin ich auf die unglaubliche Welt von Virtual Reality gestoßen. 2017 habe ich schließlich VR Geschichten gegründet und entdecke seitdem von Berlin aus die unendlichen VR Weiten.

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