Kennt Ihr das? Für den Urlaub nimmt man sich immer viel zu viel vor. Das geht ganz einfach: „Endlich kann ich die hundert Romane lesen, die in meinem E-Reader verstauben.“ Oder „Ich schaue alle neuen SciFi-Serien auf Netflix.“ Oder, wie in meinem Fall: „Endlich habe ich jede Menge Zeit, den nächsten Blog-Artikel vorzubereiten.“ Voller Vor-Urlaubs-Elan hatte ich die Speicherkarte unseres Reisehandys noch in Deutschland mit jeder Menge 360-Grad-Filmchen und kleinerer Spiele gefüttert. Um all das anzuschauen hatte ich im Vorfeld ein kleines Headset erstanden, ein Cardboard aus blauem Gummi und etwas Plastik, faltbar, leicht und bequem. Backpack-VR. Ich hätte niemals geglaubt, was aus dieser fixen Idee alles werden kann. Lest hier über unser ganz und gar nicht virtuelles VR-Abenteuer in Indonesien!
Die Wahrheit ist: Ich habe während unserer ganzen sechswöchigen Reise kein einziges Mal selbst die Brille benutzt. Stattdessen waren wir ziemlich beschäftigt damit, auf Vulkane zu klettern, das viele Sambal zu verdauen, exotische Tiere zu bestaunen und die nächsten Hotels und Flüge zu buchen. Zwischendurch konnten wir immerhin ein paar indonesischen Freunden die neue „Technik aus Europa“ demonstrieren mit dem Handy und der kleinen Gummi-Brille. Ihre Reaktionen haben mich wieder einmal daran erinnert, wie schön es ist, Menschen zu sehen, die das erste Mal eine VR-Brille aufhaben. Egal wo auf der Welt.
Besonders komische Touristen
Aber wir hatten nicht nur das Handy voller Content von anderen. Wir produzierten auch eifrig selbst welchen, um später Freunde und Verwandte nach Indonesien beamen zu können.
An jedem Reiseziel experimentierten wir mit einer kleinen Samsung Gear 360°-Kamera (das Modell aus 2016), die mein Freund vor der Reise gekauft hatte. Ein positiver Nebeneffekt: Wenn wir uns einmal verloren hatten, fand ich ihn ziemlich schnell wieder, indem ich einfach den verwunderten Blicken der Einheimischen folgte. Meistens sah ich dann eines dieser Bilder: Da stand ein großer Mann mit Hut vor dem Eingang einer Moschee, duckte sich in eine besonders enge Marktgasse, balancierte an einem Vulkankrater oder ragte empor inmitten des Gewuseles auf einem belebten Platz. Und hielt das kleine weiße Bällchen glücklich grinsend über seinen Kopf. Oft umringt von mehreren kichernden Teenies mit Selfiestick. Wir müssen beide sehr befremdlich ausgesehen haben für die Indonesier.
Einmal, wir waren in einem sehr abgelegenen Bergdorf, fand ich ihn fröhlich inmitten einer Gruppe kleiner Kinder. Ein paar sprangen um ihn herum, zwei andere untersuchten ihn von Kopf bis Fuß mit der Akribie kleiner Wissenschaftler. Nachdem sie mit seinen Wanderschuhen fertig waren, inspizierten sie völlig gefesselt den Kameraball in seiner Hand.
Am Strand entspannen? Es geht besser!
In unserer letzten Woche passierte dann etwas Unvorhergesehenes. Wir waren in der Hafenstadt Maumere ganz am östlichen Ende von Flores, einer langgestreckten Insel in der Provinz Nusa Tenggara Timur. Also echt weit weg. Dort hatten wir uns für die letzten Tage unserer Reise in einem kleinen Strand-Resort eingemietet und uns hoch und heilig gegenseitig geschworen, rein gar nichts zu tun, außer vor unserem hübschen Bungalow zu sitzen und uns zu entspannen.
Gleich am ersten Abend jedoch wurde dieser Plan auf unvorhergesehene Weise zunichte gemacht. Am Strand kamen wir mit einer Lehrerin und einem Lehrer einer der örtlichen Senior Highschools ins Gespräch. Zu unserer Überraschung luden sie uns ein, am nächsten Morgen zu ihnen in die Schule zu kommen und ihren Schülern von Deutschland zu erzählen. Etwas überrumpelt aber voller Neugierde sagten wir ja.
Plötzlich Gast-Lehrer
Nun ist das so eine vage Sache, wenn man aus dem Stehgreif etwas Interessantes über sein eigenes Land erzählen soll. Da standen wir beide also vor rund zwanzig 17-Jährigen und versuchten, ihnen ohne jegliche Vorbereitung eine spannende Show zu bieten. Dabei sprangen wir thematisch – und manchmal auch physisch – wild hin und her: wie Hochzeiten bei uns gefeiert werden, Mülltrennung, Medien, Schulsystem, Meinungsfreiheit, Anschnallpflicht, Rechtssystem, Zebrastreifen, Mauerfall… Sie hatten viele Fragen. Unterstützt wurden wir von ihrem Lehrer, der uns eingeladen hatte, und der sich nach besten Kräften bemühte, unser etwas zusammenhangloses Gestammele ins Indonesische zu übersetzen. Viele seiner Übersetzungen wurden ziemlich lang, denn er lieferte einige gute Erklärungen gleich mit dazu. So manches bedurfte wohl fachkundiger Einordnung, so weit weg war es von der Lebenswelt unserer Zuhörerschaft. (Das gilt übrigens auch andersherum, die Klasse erzählte uns viel von ihrem Leben auf Flores.) Das beste war jedoch, dass er uns sofort mit seiner Liebe zum Unterrichten ansteckte. Am Abend zuvor hatte er uns mit unserem weißen Kamera-Ball herumhantieren sehen und er bat uns, die Kamera seiner Technik-interessierten Klasse zu demonstrieren. Die Rettung, wir legten los.
Ehe ich mich versah, erklärte ich das Prinzip der zwei Weitwinkellinsen und malte zum Verständnis unförmige Skizzen an die Tafel. Währenddessen ging mein Freund zwischen den Tischen herum und zeigte den Jugendlichen das Live-Bild der kleinen Kamera, die wir mitten im Raum aufgestellt hatten. Keine Frage, wer der Star war und die ganze Aufmerksamkeit auf sich zog…
Wir waren beide sehr glücklich über das große Interesse der Schüler und Schülerinnen an unserer kleinen Amateur-Kamera und über die schnelle Auffassungsgabe, die sie an den Tag legten. Nach unserer Demonstration und dem Beantworten einiger Fragen machten wir gemeinsam mit ihnen und unseren beiden Lehrer-Freunden eine Handvoll 360-Grad-Fotos, die hier auf Facebook angeschaut werden können.
„Normale“ Fotos zu machen, daran haben wir übrigens gar nicht gedacht. Zu nervös, zu konzentriert. Ein Glück, dass es (gefühlt) hunderte Menschen mit Smartphones im Raum gab. Dieser Post auf der Facebook-Seite der Schule zeigt uns „in Aktion“.
Was ich mitnehme
Insgesamt war es eine großartige Erfahrung, die mir vor allem eines gezeigt hat: Die Faszination, die Virtual Reality ausübt, ist nicht auf unseren Kulturkreis begrenzt. Selbst in Form einfachster 360°-Fotos, geschossen mit einer Consumer-Kamera von zwei versponnenen Touristen und gezeigt auf einem kleinen, gesprungenen Smartphone-Display, versteht es diese Technik, die Menschen in ihren Bann zu ziehen.
Und deswegen habe ich Euch diese kleine Geschichte auch erzählt. Etwas Persönliches, anstatt über das Geschichtenerzählen selbst zu schreiben. Mich hat dieses Erlebnis bestärkt und inspiriert. Ich hoffe, wir können eines Tages noch einmal nach Flores fahren und dann noch viel mehr zeigen und erklären. Unser kleines, blaues Headset wird uns dann erwarten, das ist nämlich dort geblieben und erlebt hoffentlich noch jede Menge Abenteuer mit seinen neuen Besitzern. Wer kann es ihm verdenken…
Vielen Dank an die Schule John Paul II Maumere, die Schülerinnen und Schüler aus „unseren“ beiden Klassen für ihr immenses Interesse und ihre große Geduld mit uns, und natürlich an ihre großartigen Lehrer Marno und Iin, die so viel Wissen über ihre Insel und ihre Hingabe für ihre Schüler mit uns geteilt haben.