Vor einigen Jahren habe ich den Anfang des VR-Films BattleScar gesehen. Seitdem bin ich verliebt: in diesen Film, in Hauptperson Lupe, den Rhythmus, die Musik, den Stil, den Groove. Jetzt ist er endlich veröffentlicht. Eines ist sicher: Es ist die Party des Jahres!
Ein Spaziergang durch New York
An einem diesigen Frühlingsmorgen im Jahr 2018 liefen mein Mann und ich durch die Lower East Side in New York. Wir hatten das große Glück, drei Monate in dieser riesigen und herrlichen Stadt verbringen zu dürfen.
Plötzlich sah ich etwas: Ich stieß den Liebsten unsanft in die Seite und zeigte auf ein Haus am Straßenrand. „Das sieht aus wie in BattleScar!“, rief ich und lief schon mit meiner Kamera in der Hand auf das Haus zu. Mein armer Mann blieb verwirrt stehen und wusste weder mit dem Wort „BattleScar“ noch mit dem Haus viel anzufangen. Aber ich! Und da hatte ich einen wahren Schatz entdeckt.
BattleScar ist ein rund 30-minütiger, nicht-interaktiver Animationsfilm in Virtual Reality. Das erste Kapitel prämierte 2018 auf dem Tribeca Film Festival. Im Gegensatz zu mir hatte der Liebste das Festival nicht besucht, also konnte er gar nicht wissen, von was ich da so begeistert war.
Der VR-Film hatte mich umgehauen – und das beinahe wörtlich. Noch nie zuvor hatte ich ein solches Tempo, einen solchen Rhythmus in Virtual Reality erlebt. Das liegt nicht zuletzt am Thema, denn es geht um Musik. Genauer: um den Punk im New York der 70er Jahre.
BattleScar – Punkgirls erobern die Welt
Sie alle waren damals da und spielten in den Clubs von Bowery: Patti Smith, The Ramones, Talking Heads, Blondie, The Runaways. Ich bin wahrlich keine Kennerin, wenn es um Punk geht, aber während ich diese Zeilen schreibe, kann ich einfach nicht anders und höre diese Spotify-Playlist rauf und runter:
Und das solltet Ihr auch! Ihr werdet so garantiert schneller lesen. Aber es lohnt sich noch aus einem anderen Grund: Es sind dort ausschließlich Punkbands von Frauen zu hören. Frauen spielten eine wichtige Rolle in der aufkommenden Punkszene und eroberten sich nach und nach ihren Platz in der Musikgeschichte. Genau darum geht es in BattleScar, dessen Untertitel die Marschrute vorgibt: „Punk was invented by Girls“.
Der Film spielt im Jahr 1978. Die 16-jährige Lupe, Amerikanerin mit puerto-ricanischen Wurzeln, ist von zuhause ausgebüchst und findet sich in einer Jugendstrafanstalt wieder. Dort lernt sie Debbie kennen, ziemlich cool und ziemlich wild. Kaum wieder in Freiheit, nimmt Debbie Lupe mit durch New Yorks Lower East Side und Alphabet City – geradewegs hinein in die junge Punk-Szene. Gemeinsam begegnen sie ihrem großen Idol, der Sängerin Elda, finden allerlei aufregende Orte und gründen eine eigene Band, obwohl sie beide gar kein Instrument spielen können.
Für die beiden Filmregisseure, Martin Allais und Nico Casavecchia, war das Filmprojekt die perfekte Gelegenheit, um sich endlich einmal näher mit Punk Rock zu beschäftigen. Etwas, das sie ohnehin interessierte, wie mir die beiden bei einem Interview am Rande des Filmfestivals von Venedig im Sommer 2019 erzählten. Dort war BattleScar das erste Mal in voller Länge und mit allen drei Kapiteln zu bestaunen.
Martin: Wir beide haben angefangen, uns reinzufuchsen und Playlisten zu erstellen. Dabei haben wir versucht, die Musik zu verstehen: Punk der späten 70er versus Punk aus Großbritannien versus Punk aus den USA versus Punk von der Westküste versus Punk von der Ostküste. Punk von Frauen, Punk von Männern, einfach alles. Jetzt kennen wir es. Es war eine gute Entschuldigung, um in all die Archive eintauchen zu können.
Ode an eine vergangene Zeit
Mercedes Arturo, Nicos Frau, hatte den Anstoß für das Projekt gegeben. Als das Paar eine Zeit lang in New York City lebte, las sie ein Buch: „Just Kids“ von Patti Smith. Sie und Nico empfanden die Welt, die das Buch beschrieb, als so immersiv – und ganz anders, als das New York, das sie täglich erlebten.
Zusammen mit Martin, mit dem Nico schon seit Jahren befreundet war, entstand schließlich die Idee. Warum nicht eine Zeitreise ins New York der späten 70er?, sagten sie sich. In eine Zeit, die sie beide lieben und verehren. Virtual Reality schien dafür das ideale Medium – ihr erstes gemeinsames Projekt war geboren.
Daher kommt es nicht von ungefähr, dass es eigentlich drei Hauptpersonen in BattleScar gibt. Neben Lupe und Debbie ist es die Stadt, New York City, selbst. Das zeigt sich durch viele Anspielungen: Straßennamen, Viertel und Geräusche wachsen zusammen zu einer atmosphärischen Collage. Wie im Rausch und voller wachsender Begeisterung folgt man den beiden jungen Frauen durch die Stadt.
So greift BattleScar auf, was sie aus den Büchern herauslasen, erzählen mir Nico und Martin. Wann immer man damals durch die Straßen Bowerys lief, traf man Bekannte. „Weißt du, wer heute spielt? Komm doch zum Konzert“, riefen die dann. Musik an jeder Ecke.
BattleScar ist eine Schatztruhe für immersives Erzählen
Um dieses Gefühl aus den 70ern zu wecken, kreierten die beiden Regisseure eine ganz neue Bildsprache: Manchmal zoomen sie aus dem Bild heraus und die User sehen von oben auf die Stadt hinunter. In einer Art 3D-Stadtkarte, die übrigens auf einem realen Stadtplan basiert, wuseln Lupe und ihre Freunde von A nach B.
Was sich hier in VR am Anfang noch ungewohnt anfühlt, ist eine fabelhafte Idee: Nico und Martin haben so fast nebenbei das VR-Äquivalent für den filmischen Mastershot erfunden. Das ist diese eine Einstellung am Anfang einer Filmszene, die den Zuschauern zeigt, wo sie sich befinden und ihnen so geografische und inhaltliche Orientierung bietet. Eine solche Verortung in Virtual Reality? Jetzt geht es.
Und auch sonst experimentieren die beiden Regisseure bei BattleScar wild herum. Sie wollten nichts Langweiliges machen, sagen sie. Zu meinem großen Erstaunen ließen sie sich auch kaum von anderen Virtual Reality-Werken inspirieren.
Martin: Wir sehen nicht viel VR, um ehrlich zu sein. Wir hatten uns einige VR-Erfahrungen angeschaut, aber wir sind da ganz allgemein nicht so verrückt nach – wir wollen lieber selbst welche erschaffen. Und wir fragen: Wie können wir es interessant und aufregend machen für die Leute, und für uns? Alles entspricht auch dem, was wir mögen. Wir haben nur versucht eine Sprache zu finden, anstatt eine Sprache zu definieren. BattleScar versucht etwas zu finden.
Eine Sprache zu finden – das ist ihnen gelungen. Durch ständiges Ausprobieren und in vielen Gesprächen entstand eine wunderschöne Synergie, wie sie vielleicht nur Freunde erreichen können. Gleich drei ihrer Ideen bei BattleScar haben mich tief beindruckt: der Einsatz von Buchstaben, das Spiel mit Größe und Skalierung und das Voiceover.
Szenenübergänge und die Sache mit den Buchstaben
Wenn ich an BattleScar zurück denke, fallen mir zuallererst Worte ein: Große Buchstaben, in krakeliger Schrift in den Raum geschmettert. Denn während Lupe spricht – der ganze Film wird von ihrer Stimme aus dem Off erzählt –, erscheinen bestimmte Worte in geschriebener Form immer wieder vor den Augen des VR-Publikums. Nicht nur, dass sie mir zu den Zugang zur der in Englisch erzählten Geschichte erleichtert haben, für VR ist die Idee auch ein ganz neuer Ansatz. Wie kamen sie darauf?
Nico: Es gibt da ja das Tagebuch von Lupe im ersten Kapitel, das sehr wichtig ist, da sie darin ihre Erinnerungen sammelt. Wir hatten bereits angefangen, dafür einen Stil zu entwickelt und die Buchstaben zu zeichnen. Irgendwann, wahrscheinlich zufällig, merkten wir dass diese ganze Welt zusammen mit dem Voice-Over überforderte. Die kognitiven Fähigkeiten von uns Menschen sind beschränkt und VR ist ein neues Medium. Aber dann fanden wir heraus, dass wir die geschriebenen Worte als eine Art Anker einsetzen können. Sie bringen einen zurück zur Geschichte und lenken die Aufmerksamkeit zurück auf die Stimme der Erzählerin.
In der Grafik-Welt sei es natürlich nichts Neues, wirft Martin ein, der auch Illustrator ist, aber in Virtual Reality durchaus. Inhaltlich passt es perfekt zu BattleScar: Punk ist auch Graffiti und Graffiti heißt Rebellion. Und wie der Film rebelliert! Er ist schneller als alles, was ich bislang in VR gesehen habe.
Tempotreiber sind vor allem die gelungenen Szenenübergänge: Immer wieder fahren von hinten Kulissen ins Bild (wie im Theater), in anderen Szenen spielen Nico und Martin mit dem Licht und Scheinwerfern. Und dann sind es wieder die Buchstaben, die den perfekten Übergang von einer Szene in die nächste bieten, da sie den Blick und die Aufmerksamkeit der User für einen kurzen Augenblick zu fangen wissen.
Mal groß, mal klein – Battlescar experimentiert mit Skalierung
Was zusätzlich den Rhythmus antreibt, ist der originelle Umgang mit Größenverhältnissen: Mal bin ich sehr groß und schaue auf die Welt hinunter, dann werde ich mit Schwung wieder in das Universum von Lupe und Debbie hinein geworfen und stehe ihnen Auge in Auge gegenüber. Meist ist der Film in der dritten Person erzählt, doch immer wieder, und dann nur für wenige Augenblicke, erlebt man die Geschichte aus der Sicht von Lupe.
Es gibt eine Szene – die beiden Teenager treffen auf einen wütenden Kleinkriminellen –, da werden sie (und das VR-Publikum mit ihnen) auf einmal sehr klein. Die Waffe vor ihren Köpfen wächst und wächst und wird mit jeder Sekunde bedrohlicher. An solche Momente seien sie ganz intuitiv herangegangen, erzählen mir Nico und Martin. Sie hätten viel ausprobiert, darüber gesprochen und weiter experimentiert. Und immer wieder die Fragen: Welcher Charakter ist gerade stärker? Wer hat die Macht, wer fühlt sich klein oder ängstlich?
So entwickelt BattleScar den sogenannten „Puppenhaus-Stil“ weiter, den man mittlerweile in vielen VR-Werken erleben kann, Beispiele sind der Film Allumette und das Spiel Moss. Statt nur als Gott auf die Welt hinabzusehen, werden in BattleScar Akzente gesetzt und Erlebnisse geschaffen. Man kommt den Protagonistinnen so sehr nah.
Voiceover: Rosario Dawson in einer grandiosen One-Woman-Show
Während Martin sich vor allem um die Musik und die Atmosphäre gekümmert hat, war Nicos Part die Handlung. Es gab allerdings zu keinem Zeitpunkt ein richtiges Drehbuch mit Dialogen und Szenenanweisungen. Stattdessen war es eine Erzählung, eine Kurzroman, in den die wörtliche Rede der Charaktere eingebunden war – die Vorstufe zu einem Drehbuch.
Das legten die Regisseure nun der Schauspielerin Rosario Dawson vor, als sie sich das erste Mal trafen. Die begann einfach laut zu lesen und sprach sämtliche Charaktere gleich mit. Die spontane Idee wurde zum Stilmittel: Der ganze VR-Film wird von Lupe aus dem Off erzählt, es sind ihre Erinnerungen. Wenn auch der bärtige Riese an der Kreuzung seine Drohungen in Lupes Stimme ausspricht, wirkt das lustig und befremdend zugleich. Doch es verstärkt die Bindung zu Lupe, die mehr und mehr zur Freundin wird.
Rosario Dawson, die selbst puerto-ricanische Wurzeln hat, trägt mit einer fantastischen Leichtigkeit durch die Geschichte: Ganz selbstverständlich nutzt sie Worte in „Spanglish“, springt nahtlos zwischen Englisch und Spanisch hin und her. Lupe lebt zwischen zwei Kulturen, das sieht – und das hört – man.
Rhythmus und Tempo – Die Mischung macht‘s
BattleScar zu schreiben sei eine Herausforderung gewesen, erzählt Nico. Auf der einen Seite die Geschichte mit ihren zahlreichen Dialogen, auf der anderen Seite die Reizüberflutung durch all die immersiven Eindrücke. Damit die Zuschauer emotional folgen können, konzentrierte er sich auf die wesentlichen Elemente der Geschichte. Und während das erste Kapitel in einem rasanten Tempo voranprescht, sind die folgenden zwei Kapitel ruhiger, fast schon nachdenklich. Die Geschichte brauche da mehr Substanz, erklärt mir Nico.
Nico: Das erste Kapitel zeigt die Welt und stellt die Charaktere vor. Aber wenn man ein emotionales Erlebnis schaffen möchte, muss es langsamer sein, bei den Charakteren, damit man ihre Beziehungen entwickeln und Zeit mit ihnen verbringen kann. Deswegen suchen wir immer nach Kontrasten. Eine temporeiche Szene muss dann ausgeglichen werden mit einer intimeren. Ansonsten riskiert man, dass die Leute abstumpfen.
Nein, das passiert in keiner Sekunde. Die Geschichte von Lupe und Debbie ist eine Liebeserklärung an den Animationsfilm und eine Bereicherung für Virtual Reality. Wann immer VR-Filmemacher*innen Inspiration für Transitionen und Skalierung suchen, sei ihnen BattleScar empfohlen. Ich kann kaum erwarten, weitere Arbeiten von dem Duo Allais-Casavecchia zu sehen.
Wo könnt Ihr den Film sehen?
BattleScar ist eine Koproduktion zwischen ATLAS V, 1stAvenue Machine, FAUNS und Arte und wurde durch die Plattform Kaleidoscope und französischen Förderinstitutionen unterstützt. Der VR-Film ist in 6DoF im Oculus Store für die Quest und Rift erhältlich auf Englisch, Deutsch und Französisch. Eine PC-Version auf Steam ist ebenfalls erhältlich.