Trends im Virtual Reality-Storytelling: Wohin geht die Reise?

Bereits Ende letzten Jahres hat mich eine ungewöhnliche Anfrage erreicht. Ob ich nicht einen Beitrag über VR-Storytelling schreiben möchte für eine Studie. Hm, eine Studie? Die Frage hat sich schnell geklärt und ein Text zum Thema „Zukunft des virtuellen Erzählens“ entstand. Hier ist er in Auszügen für Euch.

Die Studie „Beyond Realities“ wurde von der Agentur Phocus Brand Contact durchgeführt. Nicht nur ich habe einen Expertentext beigesteuert, sondern noch viele andere Autoren mit mindestens ebenso aufregenden Themen. Den Link zur vollständigen Studie mit sämtlichen Beiträgen, inklusive meinem, findet Ihr unten.

Immer immersiver:  Wie sieht die Zukunft des Storytellings aus?

Titelbild der Studie Beyond Realities von Phocus Brand Contact. Ich schreibe darin über Storytelling in Virtual Realities und wie es sich verändert.

Es sind erst wenige Jahre vergangen, seitdem ich mein erstes 360-Grad-Video erleben durfte – oder, viel treffender: ertragen habe. Damals war ich Redakteurin beim Fernsehen und kam gerade zurück von einem Filmfestival, auf dem der Kultursender Arte sein erstes 360-Grad-Projekt vorgestellt hatte.

Zuhause wollte ich das Präsentierte natürlich sofort selbst ausprobieren: Ich zückte mein viel zu altes Smartphone und lud die angepriesene 360-Grad-App darauf. Dann setzte ich es in das Cardboard ein, das beim Festival verteilt worden war. Während ich das unbequeme Pappgerüst auf meine Nase drückte, ruckelten die 360-Grad-Bilder – einer schrecklich langsamen Internetverbindung sei Dank – vor meinen Augen vorbei. Und noch als ich die aufkommende Übelkeit hinunter schluckte, wusste ich: Dieses Erlebnis wird mein Leben verändern.

Auf der Suche nach immersiven Geschichten

Fortan trieb mich eine Frage um: Wie kann man Geschichten in diesem neuartigen Medium erzählen? Und damit meine ich Erzählungen, die uns Tränen in die Augen treiben, die uns zum Lachen bringen, zum Lieben, bei denen wir uns vor Spannung die Unterlippe blutig beißen… Geschichten, die uns nachhaltig beeinflussen können. Um es gleich vorweg zu sagen: Das ist in Virtual Reality noch immer selten. Aber wir sind auch erst am Anfang einer intensiven Entdeckungsreise.

Durch meine persönliche Erkundung der immersiven Welten mit VR Geschichten habe ich so Einiges gelernt und einen guten Überblick gewonnen. Doch stehen wir vor dem großen Paradigmenwechsel, wie es so oft heißt? Müssen wir nun alles über den Haufen werfen, was wir über Dramaturgie wissen, und völlig von vorne anfangen? Ist das klassische Storytelling am Ende, wie Stephanie Riggs es im Titel ihres lesenswerten Buches „The End of Storytelling“ so provokativ in die Welt ruft?

Dramaturgie – Kein Konzept von gestern

Mitnichten. Ich bin fest davon überzeugt, dass der klassische Aufbau einer Geschichte auch in den neuen Medien weiterhin eine große Rolle spielt: eine Handlung mit drei (oder mehr) Akten, mit auslösendem Ereignis, Heldinnen und Widersachern, Zielen, Konflikten, Hindernissen und Erkenntnissen. Das mag wenig überraschen, wenn man meine berufliche Heimat bei Film und Fernsehen bedenkt. Doch dahinter steckt mehr: Das Publikum hat diese allgegenwärtige Erzählsprache aus Filmen mittlerweile so sehr verinnerlicht, dass es einen Spannungsbogen erwartet – und zwar in jedem Medium.

Denn auch interaktive Online-Formate und Games machen sich die meisten dieser Elemente zu eigen. Selbstverständlich ist Film nicht gleich Film und Game nicht gleich Game. Manche Spiele legen einen großen Schwerpunkt auf die Geschichte und sind linear erzählt, in anderen geht es vor allem um Action. Und doch bestehen auch sie aus einem Anfang, einer Mitte und einem Schluss.

Zugegeben, im Vergleich zum Film sind beim Spiel die Proportionen etwas anders, wie Dennis Eick in seinem Buch „Digitales Erzählen“ so wunderbar erklärt: Die Exposition bei Computerspielen ist meist sehr kurz gehalten, der mittlere Teil, in dem die Herausforderungen warten, ist extrem lang. Und in vielen Games wird weniger Wert auf das Innenleben der Heldinnen (meist der Spielerinnen selbst) gelegt. Der Wunsch zu gewinnen schlägt die Katharsis. Diese wäre beim Spieler-Ich ohnehin nicht gut zu kontrollieren. (Mehr dazu hier)

Erleben statt zusehen: Die Kraft des Moments

Doch wie hilft uns das für Virtual und Augmented Reality? Ein kurzer Wow-Moment und die bloße Möglichkeit, sich im Film umzusehen, reicht der stetig wachsenden VR-Fangemeinde längst nicht mehr.

Ich stelle mir die virtuelle Welt gerne als großen Gummiball vor, in dessen Mitte sich die User befinden und innerhalb ihres Balles fröhlich hin und her flanieren können. Bei weiten Strecken rollt der Ball einfach mit. In Bezug auf Virtual Reality und alle anderen immersiven Medienformen ist „User-Centered Design“ also wirklich wörtlich gemeint.

Was das angeht, sehen wir in der Tat eine neue Art von Storytelling. Tatsächlich ist der Begriff „Storyliving“, den 2017 eine Studie von Google in das große Definitions-Wirrwarr warf, ziemlich treffend. Eine Geschichte wird in immersiven Medien von den Usern nicht nur rezipiert, sie wird erlebt, durchlebt (und manchmal auch durchlitten).

Die Gestaltung einer solchen immersiven Erfahrung muss sich entsprechend auf unsere natürlichen, menschlichen Reaktionen berufen. So folgen unsere Blicke eher einem bewegten statt einem starren Objekt. Geräusche, grelle Farben und Gesichter ziehen schnell unsere Aufmerksamkeit auf sich. Und wenn man einen großen Hebel sieht, so ist der Wunsch ziemlich stark, an ihm auch zu ziehen.

Immersives Erzählen kann schon viel – und steht doch immer noch am Anfang

All das habe ich bereits in vielen XR-Erfahrungen sehen dürfen, und ich bin keineswegs die Einzige, die auf der Suche nach einer neuen „Grammatik“ für immersives Erzählen ist. Dank mutiger Experimente vieler Filmemacherinnen und Game Designerinnen in den letzten Jahren sind bereits einige solcher universellen Mechaniken bekannt:

Die Blickrichtung der User lässt sich beispielsweise recht gut voraussagen und so auch (in Maßen) steuern. Schnitte zwischen und selbst in Szenen sowie Kamerabewegungen sind in 360-Grad- und VR-Filmen längst kein Tabu mehr, wenn man dabei ein paar Punkte beachtet. Und in interaktiven Virtual Reality-Erfahrungen sehen wir einen großen Hang hin zum Realismus: immer schärfer die Grafik, immer natürlicher die Umgebung, immer zahlreicher die Interaktionsmöglichkeiten.

Inhaltlich habe ich in den letzten Jahren stets wiederkehrende Elemente entdeckt: Da ist die Erfahrung im Gefängnis oder in geschlossenen Räumen. Da ist das Gegenüber, das mich sehr lange und ruhig anblickt, um dann erst seine Geschichte zu erzählen. Da ist der Perspektivenwechsel in den unterschiedlichsten Variationen (Wie fühlt sich ein Baby? Wie erlebt ein Adler die Welt?). Da gibt es gern genutzte Genres wie Horror, Fantasy und Science Fiction, die in fremde Welten führen.

Doch wo bleibt der dramaturgische Spannungsbogen?

Die Zukunft des immersiven Erzählens

Vielleicht kennen Sie ja auch diesen traurig-bitteren Geschmack beim Abspann: Wenn man während des ganzen Filmes mit den Protagonisten mitgefiebert hat und sich nun fühlt, als würde man einen guten Freund verlieren? Solch ein Gefühl hinterlassen nur sehr wenige VR-Erfahrungen bei mir, eine davon wäre der hervorragend geschriebene VR-Film Lucid.

Doch warum sind es so wenige? Zum einen liegt dies schlicht an der Länge. Virtual Reality- und 360-Grad-Projekte sind – verglichen mit Kinofilmen oder mit Computerspielen – noch von recht kurzer Spieldauer. Das ganz große Drama ist so natürlich viel schwieriger zu realisieren. Andererseits fehlt aber auch noch das nötige Handwerkszeug, um die stärksten Emotionen heraufzubeschwören. Und genau das ändert sich gerade. Wir können derzeit beobachten, wie ein neues und aufregendes Medium aus seinen Kinderschuhen herauswächst.

In den nächsten Jahren erwarte ich nicht nur auf technischer Seite, sondern vor allem im immersiven Storytelling große Entwicklungen. Und auch wenn ich unmöglich die Zukunft voraussagen kann, so sehe ich doch momentan die folgenden drei Trends:

1. Mehr Interaktion

Bei vielen VR-Spielen werden derzeit auch kleinste Objekte so in die virtuelle Welt integriert, dass sie beweglich sind – schließlich kann man auch in der Realität jede Schublade öffnen oder, falls man das möchte, herumliegende Bücher aufheben. Das große Ziel ist Agency: User sollen das Gefühl haben, ihre Handlungen würden wirklich etwas bewirken. Sie sollen wissen, dass sie eine Wahl haben, wie die Welt um sie herum gestaltet ist (oder das zumindest sehr fest glauben…). VR-Spiele gehen hier schon neue Wege.

Und auch bei VR-Filmen gilt: Interaktion ist zwar kein Muss. Aber sie fördert, sofern sie gut in die Geschichte eingebettet ist und einen inhaltlichen Grund hat, die Immersion. Stilles Zusehen ohne selbst etwas zu tun wird mehr und mehr verschwinden.

Momentan besteht Interaktivität bei VR-Filmen jedoch meist noch aus kleinen, interaktiven Momenten. Solche Szenen reißen aus der Passivität, doch der Verlauf der Geschichte wird darin nicht verändert. Ich sehe solche Experimente als Zwischenformen an, die sich schließlich zu immer ausufernderen, sich verzweigenden Geschichtsbäumen mit vielen, möglichen Endungen entwickeln. Oder, wie Caitlin Burns von der New York Film Academy in einem Interview mit mir prophezeite: Es wird keine Unterscheidung zwischen VR-Spiel und VR-Film mehr geben, sondern nur noch „Virtual Reality“.

Bei einer Konferenz in München stellte ich Felix Lajeunesse, dem Mitgründer des bekannten kanadischen VR-Studios Felix & Paul, eine Publikumsfrage: Was würde er, wollte ich wissen, aus heutiger Sicht anders machen? Lajeunesse überlegte nicht lange: Er wünsche sich, antwortete er, dass sie schon vor zehn Jahren damit angefangen hätten, interaktive Werke zu produzieren. Es sei so schwer, die Präsenz und Illusion einer Geschichte beizubehalten, wenn Interaktivität ins Spiel komme. Das brauche Jahre des Experimentierens.

In der Tat: Interaktivität und Dramaturgie sind schwer zusammen zu bringen. Beide sind erstrebenswert und doch sind sie zwei Antagonisten. Denn je mehr Interaktionen es gibt, desto mehr Möglichkeiten existieren, dass die Geschichte einen anderen Ausgang nimmt oder die User abgelenkt werden. Und desto schwerer wird es, den dramaturgischen Bogen zu stricken. Schließlich kommt nicht wirklich Spannung auf, wenn das VR-Publikum gerade mit dem Toaster in der Ecke herumhantiert und ihn interessanter findet als das Monster, das auf der anderen Seite des Raumes durch die Wand bricht.

Ihr wollt wissen, was die anderen beiden Trends sind? Meinen gesamten Artikel findet Ihr als Download unter diesem Link (pdf).

Die gesamte Studie „Beyond Realities“ mit allen anderen, lesenswerten Artikeln gibt es, ebenfalls als Download, hier.

Was sind Eure Prognosen für die (nahe) Zukunft im VR-Storytelling? Und wie sieht es eigentlich mit Augmented Reality aus? Schreibt mir oder kommentiert.

Veröffentlicht von Pola Weiß

#Diplom-Psychologin #Filmtante #Kino-Binge-Gängerin #Fernseh- und Online-Redakteurin ## Ich liebe gut erzählte Geschichten, egal wo. Während meiner spannenden Arbeit als Medienarbeitsbiene (u.a. für SWR und arte) bin ich auf die unglaubliche Welt von Virtual Reality gestoßen. 2017 habe ich schließlich VR Geschichten gegründet und entdecke seitdem von Berlin aus die unendlichen VR Weiten.

2 Gedanken zu „Trends im Virtual Reality-Storytelling: Wohin geht die Reise?“

    1. Hi Markus, danke für die Ergänzung. Gut möglich! Den klassischen Kinofilm wird es wahrscheinlich nicht ersetzen, aber als zusätzliches Medium zu dem, was wir jetzt schon haben, auf jeden Fall.

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