The Collider ist eine der faszinierendsten VR-Erfahrungen, die ich je durchlebt habe. Es ist kein VR-Film, kein VR-Spiel, kein Theaterstück, keine VR-Meditation… Eine Installation? Eine Selbsterfahrung? Das schon eher. Die Idee von The Collider ist so simpel wie genial: Zwei Menschen treffen aufeinander.
The Collider macht Station in New York
New York City im April 2019: Es ist der erste Tag des Tribeca Film Festivals. Ich stehe vor dem Eingang der Virtual Arcade und warte darauf, dass mich der grimmig dreinschauende Türsteher im Anzug endlich eintreten lässt.
Von der dunklen Ausstellungsfläche aus winkt mir May Abdalla durch die geöffnete Tür hindurch zu. Sie und ihre Ko-Regisseurin Amy Rose sind Gründerinnen von Anagram, einer Kreativ-Agentur im englischen Bristol, die sich auf immersive und interaktive Erfahrungen spezialisiert hat.
2018 konnte ich ihr VR-Projekt Make Noise bei den Filmfestspielen in Venedig sehen, das May und Amy für die BBC über die Bewegung der Suffragetten produziert hatten (hier kostenlos für die Oculus Go erhältlich).
Kaum habe ich die Arcade betreten, zieht May mich zu sich und deutet auf die große Box hinter sich. The Collider steht direkt neben dem Eingang, ist eine der wenigen Installationen in diesem Jahr und mit rund 40 Minuten eine der längsten Erfahrungen. Doch um was geht es?
Ein Experiment über Macht und Ohnmacht
Die Namensgebung ist nicht zufällig und soll an den großen Large Hadron Collider erinnern, den Teilchenbeschleuniger des CERN Forschungszentrums nahe Genf. Doch in dieser Version kollidieren keine Partikel – sondern Menschen. In meinem Fall spielt May die Kupplerin: „Warte hier“, sagt sie, verschwindet kurz und kommt dann zurück mit einer mir fremden Frau.
Die Fremde und ich betreten die VR-Erfahrung getrennt durch verschiedene Eingänge. Ich finde mich in einem kleinen Zimmer wieder, das eine Arztpraxis erinnert. An der Wand hängen Kopfhörer, die ich aufsetze. Eine Frauenstimme gibt mir Instruktionen.
Auf einer Kommode vor mir steht eine Glasschüssel, darin sitzen winzige Figuren auf Puppenhaus-Möbeln, kleine Bäume stehen um sie herum. Jetzt müsse ich basteln, sagt die Stimme: Mithilfe der Figuren, buntem Papier und einer Schere soll ich eine Situation aus meiner Vergangenheit nachstellen, in der ich die Schwächere war, diejenige ohne Macht, und die andere Person die stärkere.
Psychologen würden diesen ersten Raum „Priming“ nennen, meine Erinnerungen werden geweckt und bereiten alles Nachfolgende vor, meine Reaktionen, meine Gefühle… Das ist längst nicht das Einzige, das mich an ein wissenschaftliches Experiment erinnern wird.
Tanz mit einer Fremden
Ich trete durch eine Tür in einen zweiten Raum, so will es die Stimme. Die Wände bestehen aus grünen Vorhängen, in der Mitte liegt Sand am Boden. Darüber hängt eine VR-Brille, ich setze sie auf. Da stehe ich nun mit den Füßen im Sand, die VR-Brille auf den Augen und sehe erst einmal – nichts.
Die Stimme beginnt wieder zu sprechen und erzählt etwas von Partikeln, von Beziehungen und Hierarchien… Ich höre nicht richtig zu. Viel zu fasziniert schaue ich in meiner dunklen Brille auf zwei leuchtende Punktewolken, die sich nun auf mich zu bewegen.
Die Wolken beginnen, sich in Kreisen zu bewegen. Ich soll es ihnen gleichtun, gebietet mir die Stimme. Und so folgen meine Hände den Punktewolken, wir drehen uns, immer wilder, immer extremer, und es wird zunehmend schwerer die Bewegungen mit meinen Armen zu spiegeln.
Die beiden Wolken sind die Hände der Fremden, die sich mit mir in The Collider gewagt hat. Sie hält die Controller, ich trage die VR-Brille. Sie sieht, ich bin blind.
Das Unwohlsein
Hoffentlich sieht man mir nicht an, wie unwohl ich mich fühle, denke ich. Ich bin nervös, es ist warm in dem kleinen Raum und siedend heiß fällt mir ein, dass sie ja sehen könnte, wenn ich schwitze. Wie peinlich das wäre!
Nun muss ich unseren kleinen Tanz anführen und meine Hände hin und her schwingen, mich drehen, in die Hocke gehen, springen. Die Punktewolken folgen meinen Bewegungen. Es gibt einen kurzen Moment, da sind wir vollkommen synchron, was sich merkwürdig schön anfühlt. Aber ich will es ihr auch nicht zu leicht machen, jetzt, da ich endlich selbst bestimmen darf.
Und dann soll ich schreien, meine Stimme benutzen und habe schreckliche Angst, dass sie mich hören kann. Ich fühle mich immer unsicherer und beginne nun tatsächlich zu schwitzen, was die Sache nicht besser macht. Warum dauert das so lange?
Da spüre ich plötzlich zwei Hände auf meinen Schultern. Sanft führen sie mich ein paar Schritte nach hinten, drücken mich Richtung Boden. Ach, da ein Stuhl, ich erinnere mich, und setze mich erleichtert hin.
Ich spüre, wie sich die andere kurz entfernt. Doch auf einmal ist da ein Luftzug. Wind? Ein Fächer! Ich sitze da, freue mich über die Abkühlung und warte, was als nächstes kommt… Warum vertraue ich ihr bloß?
The Collider regt zum Nachdenken an
Nach dieser Erfahrung werden wir in den dritten und letzten Raum geführt. Dort sitzen wir uns endlich gegenüber, die Andere und ich, und können uns gegenseitig sehen. Es liegen kleine „Menükarten“ aus mit Fragen, die unsere Diskussion anregen sollen. Aber das brauchen wir gar nicht und beginnen sofort, uns auszutauschen.
Es ist ein lebhaftes Gespräch, doch ich bemerke eine verstörende Kleinigkeit: Die Hierarchie, die die Erfahrung zwischen uns gebaut hat, besteht in den ersten Minuten weiter. Es ist die Andere, die als erste anfängt zu sprechen, sie gibt die Fragen vor. Ich fühle mich ihr zunächst unterlegen und bin froh, als dieser Eindruck nach kurzer Zeit verfliegt.
Die Fremde, die mir jetzt überhaupt nicht mehr fremd ist, sondern erstaunlich vertraut, hat ihre Seite der Geschichte ebenfalls aufgeschrieben. Während ich mich verletzlich und beobachtet fühlte, lastete auf ihr das Gefühl der Verantwortung. Sie wollte mich beschützen.
Im Gespräch mit May Abdalla: das Geheimnis menschlicher Beziehungen
Ich kann nicht sagen, dass ich das Experiment mochte. Aber ich bereue keine Minute, dass ich mich hinein gewagt habe, denn es hat mir viel über mich erzählt. Hinterher hatte ich die Gelegenheit mit May darüber zu sprechen. Was wollten sie mit The Collider herausfinden? May erklärt es so:
„The Collider soll eine Maschine sein, das ist die Idee. Sie lässt verschiedene Personen auf einander prallen um mehr über die Materie herauszufinden, die zwischen uns existiert. Wie entstehen Bindungen zwischen Menschen? Warum wirken wir manchmal so stark und manchmal so fragil? Was ist diese unentzifferbare Wissenschaft dahinter, die erklärt, warum wir zusammenfinden, andere dominieren oder uns anderen fügen?“
Und natürlich macht es einen Unterschied, ob die beiden Personen, die The Collider betreten, einander fremd sind oder ob sie sich kennen, vielleicht gar vertraut miteinander sind. Da hätte es auch in eine ganz andere Richtung gehen können, sagt May und lacht. Inwieweit reagieren Frauen und Männer anders auf das Experiment, will ich wissen.
Wenn ein Paar zu ihnen komme, erklärt mir May, gebe sie dem Mann gerne die machtlose Rolle (in der VR-Brille) und der Frau die dominierende (mit den Controllern). Doch einmal hätte es eine Situation gegeben, da wollte die Frau unbedingt die VR-Brille aufsetzen.
„Das war eine interessante Erfahrung für beide. Der Mann erzählte uns hinterher, wie die Erfahrung ihm noch einmal bewusst gemacht habe, dass Grenzen auf keinen Fall überschritten werden dürfen. Er erinnerte sich an einige Momente in seinen Beziehungen mit Frauen. Also vielleicht hatte das etwas Gutes. Aber natürlich können wir solche Ergebnisse nicht vorhersehen. Es ist die wohl interaktivste Erfahrung, die wir überhaupt hätten erschaffen können. Denn wir überlassen es komplett den Teilnehmern. Was sie mitbringen, ist allein in ihren Köpfen, was sie tun, ist ihre Entscheidung.“
Das Interessante an den Debatten von #Metoo sei gewesen, dass die Leute diskutiert hätten, wie Machtmissbrauch überhaupt möglich sein kann, führt May weiter aus. Die Leute fragten, warum so etwas passiert. Ob wir es nicht auch zulassen würden, dass ein anderer solche Dinge tut? Eine sehr kontroverse Diskussion, wie May findet, denn natürlich sind Opfer niemals selbst schuld.
The Collider stellt die Fragen von Macht und Dominanz stattdessen in einen breiteren Kontext. Vieles in Kultur und Gesellschaft sei so verinnerlicht, dass wir den Blick auch auf uns selbst richten müssten, sagt May:
„Es geht darum herauszufinden, dass es innerhalb in dieser größeren Sprache der Macht – und da gibt es ein riesiges Universum voller Argumente – auch ein ganz kleines Universum gibt, winzig, innerlich, Partikel für Partikel, Stück für Stück. Und das ist in unseren Köpfen. Wenn wir es schaffen würden, einen kleinen Teil davon zu entschlüsseln, dann sähen wir, dass alles damit verbunden ist: das Bollwerk der Hierarchien, wie die Welt funktioniert, wie Regierungen funktionieren, wer Entscheidungen trifft…“
Ob die VR-Erfahrung das schaffen kann, muss jeder selbst für sich herausfinden. Ich würde sagen: Traut Euch, wenn Ihr die Chance habt!
The Collider kommt nach Venedig
Amy und May kommen beide vom Dokumentarfilm, was man ihrer Arbeit anmerkt. Da passte es nur zu gut, dass The Collider in einer ersten Kurzversion 2018 beim Doclab der IDFA in Amsterdam, dem größten Dokumentarfilmfestival der Welt, Premiere feiern konnte.
Nach Zwischenstopps in New York und in China (wo sie beim Sandbox Immersive Festival sogar den Preis als „Best Immersive Art“ gewonnen haben!) geht es als nächstes nach Venedig zu den Internationalen Filmfestspielen. Ende August wird The Collider als eine von zehn Erfahrungen in der Sektion „Best of VR“ dem Venediger Publikum präsentiert werden.