The Key – Die Auflösung

Ich habe den Schlüssel gefunden. Annas Erinnerungen kehren zurück…

Noch immer bin ich in der Virtual Reality. Doch wo noch vor einigen Augenblicken noch die surreale, farbige Welt von Annas Träumen war, starre ich nun auf eine gänzliche andere Umgebung:

Ein weiteres Zimmer. Es ist ganz ähnlich geschnitten wie mein Zimmer in den Wolken, in dem ich die drei Gefährten-Kugeln gefunden habe und das der Sturm zerstört hat. Doch dieses Zimmer hier ist keine gezeichnete, künstliche Welt mehr, es ist die echte, harte Realität.

Auch dieses Gebäude wurde hart getroffen – jedoch nicht von einem Sturm. In einer der Wände klafft ein Loch, überall liegen Trümmer und Staub. In dem Zimmer haben einmal Menschen gewohnt, das sieht man deutlich an den Möbeln und Gegenständen, die sie zurückgelassen haben. Langsam wird mir die VR-Brille abgenommen, Annas Stimme erklingt nun wieder an meinem Nacken. Ich sehe in die Augen der stummen Frau vor mir.

Vor dem Tribeca Film Festival war das Team von The Key sehr darauf bedacht, dass bloß nichts von der Geschichte an die Öffentlichkeit kommt. "Unlock the mystery" war alles, was man vorab wissen durfte. © VR Geschichten/ Pola Weiß
Vor dem Tribeca Film Festival war das Team von The Key sehr darauf bedacht, dass bloß nichts von der Geschichte an die Öffentlichkeit kommt. „Unlock the mystery“ war alles, was man vorab wissen durfte. © VR Geschichten/ Pola Weiß

Das Geheimnis des Schlüssels

Ihr ahnt es sicherlich schon, doch in The Key geht es um Menschen, die aus ihrer Heimat flüchten mussten. Das Trauma der Flucht – bei der fiktiven Figur Anna war dies der Grund ihrer Amnesie.

Doch wie sie tragen viele Geflüchtete ihr ganzes Leben lang den Schlüssel ihres verschollenen Zuhauses mit sich, selbst wenn sie nie wieder dorthin zurückkehren können. Diese Schlüssel sind ein geheimer und doch unbrauchbar gewordener Schatz.

Das zerbombte Haus, in dem ich am Ende der VR-Erfahrung stehe, war einmal ein solches Zuhause. Es wirkt so real, da es per Photogrammetrie, also aus unzähligen Einzelfotos, zusammengesetzt wurde. Dafür ist Regisseurin Céline Tricart eigens im Frühjahr 2019 nach Mossul in den Irak gereist.

Annas Zimmer im Wolkenhaus © Lucid Dreams Productions
Annas Zimmer im Wolkenhaus. Es ist im Grundriss genau an das reale Vorbild im Irak angepasst. © Lucid Dreams Productions

Auch die in Berlin ansässige Firma Realities war an dem Projekt beteiligt: Die Photogrammetrie-Experten führten vorab ein Training mit Celine durch und machten anschließend aus den von ihr im Irak geschossenen Fotos in einen virtuell begehbaren Raum.

Wie The Key entstand

The Key stammt aus dem Oculus Creators Lab, Teil der VR For Good Initiative von Oculus. Daraus ging auch bereits das großartige Projekt Home After War hervor, über das ich vor einiger Zeit berichtet habe. In dem Programm werden Nichtregierungsorganisationen mit XR-Schaffenden zusammen gebracht, gemeinsam sollen sie eine immersive Erfahrung entwickeln.

Wie Celine Tricart in Voices of VR erzählt, dem Podcast von und mit Kent Bye, hatte sie sich vorab bereits zwei Mal vergeblich beim Creators Lab beworben.Erst beim dritten Mal klappte es. So wurden sie und die in Clarkston, im US-Bundesstaat Georgia, ansässige NGO Friends of Refugees zu Partnern.

Das kleine Städtchen nahe Atlanta pflegt eine besondere Willkommenskultur: Knapp 53 % der Einwohner von Clarkston wurden in einem Land außerhalb den USA geboren. Laut Lauren Brockett, Director of Employment Services bei Friends of Refugees, kamen in den letzten 35 Jahren 60.000 Neu-Ankömmlinge nach Clarkston und Umgebung und starteten von dort aus in ihr neues, amerikanisches Leben. Sie stammen aus rund 150 verschiedenen ethnischen Gruppen.

Die endlose Schlange symbolisiert das oft jahrzehntelange Warten der Flüchtlinge in ihren Lagern. © Lucid Dreams Productions
Die endlose Schlange symbolisiert das manchmal jahrzehntelange Warten der Flüchtlinge in Lagern. © Lucid Dreams Productions

Auch deshalb sind die Figuren in The Key so unbestimmt, so nationalitätslos. Alle sollen sich darin wiederfinden können, egal ob aus dem Irak, aus Burma, Afghanistan oder Eritrea. Nicht immer ist das Erinnerungsstück, das sie sorgsam aufbewahren, ein Schlüssel – zumindest nicht im wörtlichen Sinne.

Manchmal ist es auch eine Münze oder ein Bild, wie man auf der Seite von Friends of Refugees nachlesen kann. Diese Dingen verbänden ihr altes Leben mit dem neuen – genauso wie der Schlüssel in dem VR-Film, so schreibt es Lauren Brockett, die mir per E-Mail einige Fragen beantwortete.

Friends of Refugees und das Ankommen in der Fremde

Die 1995 gegründete NGO Friends of Refugees will Geflüchteten den Start in ihre neue Zukunft einfacher machen: sie vermittelt Arbeitssuchende an Unternehmen, bietet Englisch-Kurse an, unterstützt bei der Gründung eigener Unternehmen, betreibt einen Gemeinschaftsgarten, bringt Ehrenamtliche mit Neuankömmlingen zusammen und vieles mehr.

Warum haben sie bei Oculus VR For Good mitgemacht? Um von ihren Programmen zu erzählen, erklärt mir Lauren:

Unser Ziel mit diesem VR-Projekt ist es, Beispiele zu zeigen aus unserer Gemeinschaft und wie sie die Flüchtlinge willkommen heißt und unterstützt. Dadurch können hoffentlich mehr Menschen Empathie entwickeln und selbst Flüchtlinge unterstützen in ihrer eigenen Nachbarschaft.

So sollen die Zuschauer von The Key ermutigt werden zu helfen – und können auf diese Weise für jemanden der „Schlüssel“ zu einem neuen Leben werden (Erfahrungen kann man unter #bethekey mit anderen teilen).

Eine Erzählung in Metaphern

Friends Of Refugees brachte Celine mit in Clarkston lebenden Geflüchteten zusammen, die ihr von ihren Erlebnissen erzählt haben. Oft waren das Erinnerungen, die einander ähnelten. Celine und ihr Team machten aus diesen Gemeinsamkeiten schließlich mystische Szenen, emotionale Reisen voller Symbolik.

Es sind somit nicht die Geschichten einer einzelnen Person, sondern die Essenz der Schicksale von vielen. Die Dramaturgie entlang von Gefühlen, die man in The Key viel schneller greifen kann als die anfänglich schwer zu verstehenden Bilder, nennt Celine emotionales Storytelling.

Immer wieder schilderten die Flüchtlinge beispielsweise ihre Flucht: Wie sie von einer Minute auf die andere gezwungen waren, das Zuhause zu verlassen, wie sie sich nur ein paar Sachen schnappen konnten und dann rennen mussten. Doch dies war nicht das Schlimmste. Celine berichtet mir in Venedig davon:

Viele erzählten uns, dass sie auf ihrer Flucht Kontrollen passieren mussten. Dort stahlen die Leute ihre Sachen – und wenn es nur das ist, ist es ok. Aber manchmal stahlen sie Menschen. Jemand erzählte uns, wie er mit seiner Familie in einem Bus aus Bagdad floh und versuchte, nach Syrien zu kommen. Das war 2004 während des Irak-Krieges. An jedem Kontrollpunkt mussten sie Geld, eine Halskette oder anderen Schmuck abgeben. Bei der letzten Kontrolle hatten sie schließlich nichts mehr. Und so nahm die Miliz, die den Checkpoint kontrollierte, seine kleine Schwester mit. Die Familie hat die Schwester seitdem nie wieder gesehen.

Es sind herzzerreißende Geschichten wie diese, die Celine und ihr Team hörten. Aus ihnen entstand der erste Traum in The Key, in dem ein Sturm das Zimmer zerstört. Nur zwei der drei kleinen Gefährten können gerettet werden – egal wie sehr man sich auch anstrengt.

Irgendwann wird die farbenfrohe Welt von The Key trist und grau. © Lucid Dreams Productions
Irgendwann wird die farbenfrohe Welt von The Key trist und grau. Mit jedem der drei Gefährten, „Red“, „Yellow“ und „Blue“ wird mir auch eine Farbe entrissen. © Lucid Dreams Productions

Doch es ist nicht nur die Flucht und der Verlust der Heimat, die in The Key thematisiert werden. Auch die Ankunft in einem Land und die darauf folgende Zeit des Wartens fließen in das VR-Projekt ein. Es ist ein Warten ohne Arbeitserlaubnis, ohne zu wissen, wie es weitergeht. In endlosen Schlangen erlebt man diesen „Limbo“, wie Celine es nennt, in dem die Flüchtlinge oft Jahre, manchmal gar Jahrzehnte ausharren müssen.

Emotionale Barrieren durchbrechen

Celine, so sagt sie mir, habe sehr schnell gewusst, dass sie kein journalistisches Projekt über die Flüchtlingskrise machen wollte. Denn das gebe es bereits. Auch sie selbst konnte in der Vergangenheit Flüchtlingscamps besuchen und war mehrmals im Irak. So entstand der berührende 360-Grad-Film Sun Ladies, den sie als Ko-Regisseurin und Ko-Produzentin zusammen mit Christian Stephen gemacht hat.

Doch inzwischen die Menschen würden in den Medien regelrecht von Flüchtlingsthemen bombardiert, sagt Celine und erklärt mir den Plan hinter The Key:

Die Leute schützen sich, indem sie emotionale Barrieren aufbauen, so dass man nichts mehr spürt… Die Nachrichten wirken so isoliert, es ist alles weit weg und passiert Menschen, die man weder kennt noch versteht. Ich wollte mit The Key einen Weg finden, diese Barrieren zu umgehen und die Leute mit der Geschichte über die Flüchtlinge zu überraschen. Öffentlich haben wir lediglich gesagt, dass es ein Rätsel ist mit einem mysteriösen Schlüssel und dass man herausfinden muss, woher dieser Schlüssel kommt. So sind die Leute in die Geschichte gegangen, ohne zu wissen, wohin sie führt – und ohne ihren emotionalen Schutzwall.

Sicher kann man an dieser Stelle diskutieren, ob man unserer kollektiven emotionalen Abstumpfung nur durch Tricks und Überraschungseffekten beikommen kann. Ob wir wirklich schon so abgebrüht sind, dass es nicht anders geht?

Szene aus The Key: Schauen wir schon zu lange weg? © Lucid Dreams Productions
Szene aus The Key: Schauen wir schon zu lange weg? © Lucid Dreams Productions

Doch die „Falle“, wie Celine sie im Podcast selbst nennt, scheint zu funktionieren. Bei einer Party in Venedig unterhielt ich mich mit der Schauspielerin, die ich nun bereits zwei Mal in der Installation von The Key getroffen hatte. Sie könne sich an nahezu alle Besucher*innen der VR-Installation erinnern, berichtete sie mir. Ich reagierte wohl ein wenig ungläubig, denn sie erklärte mir daraufhin den Grund: So viele kämen gerührt und schockiert aus der virtuellen Welt zurück, manche weinten.

Wenn man einen solchen Moment mit jemandem teilt, sagte sie, dann vergisst man diesen Menschen nicht so schnell.

Veröffentlicht von Pola Weiß

#Diplom-Psychologin #Filmtante #Kino-Binge-Gängerin #Fernseh- und Online-Redakteurin ## Ich liebe gut erzählte Geschichten, egal wo. Während meiner spannenden Arbeit als Medienarbeitsbiene (u.a. für SWR und arte) bin ich auf die unglaubliche Welt von Virtual Reality gestoßen. 2017 habe ich schließlich VR Geschichten gegründet und entdecke seitdem von Berlin aus die unendlichen VR Weiten.

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