Klingt es nicht wie ein Schlachtruf? Tribeeeecaaa! Tribeca, ich komme! Wer mich kennt, weiß, dass ich bei Filmfestivals nicht zimperlich bin. Wenig Schlaf, lange Schlangen, kaum Zeit für Essen oder Trinken – ich bin dabei! Und nun das erste Mal in Übersee, beim Tribeca Film Festival. Mit einem ehrgeizigen Ziel: Ich will jede einzelne Experience der Virtual Reality Ausstellung erleben. Ob ich es geschafft habe? Lest selbst.
Das große Rennen
Ich gehe mitten durch Manhattan. Um mich herum all die Bilder, die man sofort im Kopf hat, wenn jemand „New York City“ sagt: gelbe Taxis, verhetzte Geschäftsleute, Hochhäuser, Zebrastreifen, Ziegelwände. Hinter einer dieser vorhanglosen Fensterfronten ist sie, die „Immersive“ Reihe des Tribeca Festivals. Obwohl es noch rund 45 Minuten hin sind, bis sich die Türen zum ersten Mal für das Publikum öffnen, wartet bereits ein halbes Dutzend Leute in der Reihe. Ich stelle mich zu ihnen und wir zittern gemeinsam im kalten New Yorker Wind.
Meine Tickets habe ich schon vor Wochen gekauft. Das Tribeca Film Festival zeigt neben rund 100 Filmen auch eine vielfältige Auswahl an Virtual Reality Stücken, die meisten davon Weltpremieren. Aus 291 Einreichungen haben es dieses Jahr 27 Experiences in die Austellungshalle, die Virtual Arcade, geschafft. Um sie sehen – nein, erleben – zu können, muss man ein Ticket haben für ein festes Zeit-Fenster. Drei Stunden sind es. Drei Stunden VR pro Ticket.
Punkt 12 Uhr, es geht es los. Nacheinander lassen wir unsere Tickets einscannen und bekommen farbige Armbändchen dafür. Die schöne Reihenfolge aus der Warteschlange hält nicht lange, denn sobald man sein Bändchen hat, heißt es: rennen! Zu den Aufzügen, rein in den Aufzug (am besten nah an die Tür), raus aus dem Aufzug, rennen. Kurz nochmal warten, dann wieder rennen, rein in die Arcade. Wer zu langsam ist, wird abgehängt. Drinnen angekommen, bin ich erst einmal baff. Es ist eng und dunkel, überall stehen die sonderlichsten Installationen. Ein gedeckter Festtags-Tisch, riesige Stapel Kartons, irgendwo hängt eine amerikanische Flagge und von ganz weit hinten kommt ein tiefes Dröhnen. Vor jeder Experience stehen Ständer mit iPads. Dort trage ich mich, so schnell ich kann, in die jeweilige Warteliste ein. Und dann heißt es warten auf die SMS, die sagt: Du bist in 5 Minuten dran. Komm schnell!
Insgesamt hat es mich fünf Tickets, viel Warten und eine Menge Hartnäckigkeit gekostet. Und obwohl das ein hoher Einsatz war, ohne die Hilfe des wunderbaren Virtual Arcade Teams hätte ich es nicht geschafft: Ja, ich konnte tatsächlich alle 27 Experiences sehen! Danke Danke! Wahrscheinlich bin ich neben dem Kurator einer der wenigen Menschen, die das von sich behaupten können.
Tribeca 2018: Die Experiences
Welch schöne Auswahl. Wahrscheinlich ist es unnötig zu schreiben, dass ich begeistert war. Lasse ich das Erlebte Revue passieren, so ist es vor allem die große Bandbreite – thematisch wie technisch -, die mich am meisten beeindruckt hat. Von so vielen tollen Erfahrungen will ich Euch die eindrucksvollsten vorstellen. Es sind einige. Hier kommt Teil eins meines Tribeca-Best-of:
Das Innovativste
Für alle, die einen Blick ins Tribeca Immersive Programm werfen konnten, keine Überraschung. Ja, es ist Jack: Part One. Von dort stammte das unheimliche Grollen und Poltern. Für diese Experience haben sich mit den Baobab Studios und Mathias Chelebourg zwei wahre Könner zusammengetan.
Das hat sich ausgezahlt: Jack war die große Attraktion in diesem Jahr. Und die Tür, die in die Jacks Welt führte, die wohl best bewachte in ganz New York. Nach unzähligen vergeblichen Versuchen durfte ich sie endlich selbst durchschreiten, dank persönlicher Fürsprache des Orga-Teams. Ich betrat einen kleinen Raum, in der Mitte ein wackliger Hocker, an der Wand eine Matratze, daneben ein gusseisener Ofen mit einem Wasserkocher. Und dann stieß ich mit dem Kopf an die Glühbirne, die von der Decke herunterhing. Tatsächlich, es war alles echt! Per Tracking in die virtuelle Welt gebracht. Als ich mich gerade aufs Bett setzen wollte, erschien ein großer grüner Frosch und schrie mich an. Es war „meine“ Mutter, ich war Jack. Und sie tat, was Mütter eben tun. Sie drückte mir einen Besen in die Hand und zwang mich, das Häuschen zu fegen. Widerstand zwecklos, ich spielte mit. Und dann geschah das Unglaubliche: „Meine“ Mutter und ich, Jack, begannen miteinander zu reden. Obwohl ich es vorab gelesen hatte, es traf mich dennoch ganz unvermittelt: das Bewusstsein, dass ich mich keineswegs alleine im Raum befand. Mir gegenüber war eine Schauspielerin, die dank Motion Capture Anzug und mehrerer Kameras als Frau Frosch in meiner Brille erschien. Nach einigen Minuten ließ sie mich allein, jedoch nicht ohne mir eine Aufgabe zu geben. Ich sollte ihr wertvolles Radio verkaufen, um Geld für etwas Essen zu beschaffen. Schon bald kam der fliegende Händler, ein zwielichtiger Rabe in einem Gefährt, das an ein Piratenschiff erinnerte, an meiner Tür vorbei. „Hey, kleiner Mann“, krächzte er und bot mir einen Tausch an: mein Radio gegen eine magische Bohne. Erst wollte ich das Radio nicht hergeben – ich konnte es doch überall mit mir herumtragen und alle Knöpfe drücken! Doch dann gab mir der Händler die fußball-große Bohne in die Hand. Wie sie roch, frisch und grün! Ich willigte ein. Bis heute frage ich mich, was wohl passiert wäre, hätte ich mich geweigert. Ob das Stück dafür ein alternatives Ende parat gehabt hätte? Oder wäre ich irgendwie gezwungen worden? Die Mutter kam zurück und war alles andere als glücklich über mein Geschäft. Als sie die Bohne voller Wut aus dem Fester warf, geschah etwas Wundersames. Die Bohne keimte, es dröhnte und wackelte und schon bald thronte unser Häuschen auf einer riesigen Bohnenpflanze, die innerhalb von Sekunden aus dem Boden geschossen war. Dann war alles zu Ende, Fortsetzung folgt.
Zugegeben, so ganz neu ist die ganze Idee nicht. War doch letztes Jahr mit Draw me Close“ein ähnlicher Aufbau bei Tribeca zu erleben (leider war ich selbst nicht da). Auch, wenn Jack das Rad nicht neu erfunden hat, die Experience setzt einen völlig neuen Maßstab in Punkto Interaktivität. Nichts ist natürlicher als die Kommunikation mit einer Person aus Fleisch und Blut, künstliche Intelligenz hin oder her. Mit technischer wie erzählerischer Perfektion zeigt Jack, wie immersiv VR sein kann. Wie magisch, wie mitreißend. Für mich sind solche Projekte die Zukunft von location-based Virtual Reality. Damit verlässt VR die Film-Welt und rückt deutlich näher ans immersive Theater.
CNET hat übrigens mit der Kamera eingefangen, was hinter der Brille bei Jack passiert. Spannend ist die Motion Capture Body Suit, die die Schauspielerin als Frosch-Mutti in die VR-Welt transportiert. Und achtet auch auf die vielen Helferlein:
Die schönsten Filme
Wer den wunderschönen Animations-Film Allumette gesehen hat (mit HTC Vive oder Oculus Rift kostenlos auf Steam und im Oculus Store), der kennt bereits die Arbeit der Penrose Studios. Sie stehen zusammen mit Baobab derzeit an der Spitze, wenn es um animierte VR-Filme geht. Mit einer ersten, kürzeren Version von Arden’s Wake waren sie schon letztes Jahr beim Tribeca Festival zu erleben. Dieses Jahr kam die Fortsetzung namens Arden’s Wake: Tide’s Fall.
Es waren 30 Minuten, in denen ich zwischen Trauer, fröhlichem Kichern, kaum auszuhaltender Spannung und Gruseln hinundher geworfen wurde. Es war ein Ereignis. Erzählt wird die Geschichte von Meena (gesprochen von Alice Vikander, der wunderbaren Ava aus Ex Machina), die inmitten einer Welt aus lauter Wasser lebt. Mit ihrem Vater zusammen bewohnt sie ein kleines Häuschen knapp über der Wasseroberfläche. Als der Vater eines Tages nicht mehr von einem Tauchgang zurück kommt, schnappt sich Meena mutig sein Uboot und taucht hinab in die Tiefe. Und die Zuschauer mit ihr! Die Erzählweise der Penrose Studios basiert auf Welten, die so groß sind wie ein Puppenhaus. Als Zuschauer ist man passiv – und unsichtbar, kann sich aber frei in der Welt bewegen. Dadurch ist es möglich, sich die Persönchen und ihr Treiben von nah oder fern, von oben oder unten, anzusehen, oder sich gar zwischen sie zu stellen. Je nachdem, ob man sich für eine Position im Haus, vor dem Haus oder gar unter Wasser entscheidet, sieht man einen anderen Teil der linear erzählten Geschichte.
Die Erzähltechnik in Puppengröße hat sich BattleScar von Penrose abgeschaut. Und doch so viel mehr hinzugefügt! Wie Tide’s Fall ist auch BattleScar ein Animationsfilm über junge Frauen, allerdings nur rund ein Drittel so lang. Und auch, wenn der Film hier nur an dritter Stelle kommt – es war für mich der beste VR-Film des diesjährigen Tribeca Festivals, zählt man die Installationen einmal nicht hinzu. Es geht um die beiden Ausreißerinnen Debbie und Lupe. Sie lernen sich im Gefängnis kennen und entdecken nach ihrer Freilassung gemeinsam das New York der 70er Jahre und die damalige Musik-Szene. Durch den Film führt die Stimme der 16-jährigen Lupe (gesprochen von Rosario Dawson), die Wurzeln in Puerto Rico hat. Somit ist es auch ein Film über Identität und Heimat. Anders als Tide’s Fall verlässt BattleScar immer wieder die Miniatur-Welt und wirft die Zuschauer selbst in die Szene (auch wenn sie keine Rolle haben). Diese Wechsel bewirken viel, denn man kann es sich nicht in einer gott-gleichen Zuschauerrolle mit dem allwissenden Blick von oben gemütlich machen. Einzigartig auch der Umgang mit Buchstaben, das habe ich so noch nie gesehen: Lupe führt ein Tagebuch und Auszüge davon erscheinen alle paar Sekunden als geschriebene Worte im Blickfeld. Der Film ist purer Punk. Durch die Schrift betont er besonders wichtige Sätze, die gesprochen werden – und bestärkt mich damit in einer meiner Theorien: in VR muss man erleben, was man hört. Desto stärker wird die Immersion. Zwar übertreibt es „BattleScar“ damit bisweilen, dafür aber sind die Szenenübergänge ein Meisterstück. Mittels Spotlights, Kulissen, die sich aus dem Dunkeln dem Zuschauer entgegendrehen, und schnellen Fahrten hinein in 3D-Seiten aus Lupes Tagebuch erschaffen die beiden Regisseure Nico Casavecchia und Martin Allais eine Achterbahnfahrt aus Licht, Rhythmus und Musik. Ärgerlich ist lediglich das abrupte Ende, ich will mehr! Es sind wohl auch hier noch Fortsetzungen geplant. BattleScar ist eine Produktion von Atlas V und vielen Partnern, darunter ARTE. Deswegen habe ich die große Hoffnung, dass Ihr den Film auch bald sehen könnt.
Erwähnenswert in der Film-Sektion ist auch noch Campfire Creepers: Midnight March. Treue Leser meines Blogs wissen, wie sehr ich Horror hasse. Trotzdem habe ich mich hineingewagt – mein Ziel musste erreicht werden! Der Film ist nicht sonderlich innovativ, aber richtig gut gemacht. Zudem kein Animationsfilm, sondern in packender, stereoskopisch gedrehter Live Action. Es geht um ein paar Kinder, die nachts im Wald um ein Feuer herum sitzen, Marshmallows grillen und sich Horrorgeschichten erzählen. Soweit, so klassisch. Laut Pressematerial ist es eine Hommage an die Horror-Streifen der 70er und 80er Jahre. Und das Ganze ist ganz und gar nicht „süß“, wie mir die Tribeca-Mitarbeiterin am Eingang weismachen wollte – wohl um mich zu beruhigen. Regisseur Alexandre Aja sagt dazu: „My goal was to craft a rollercoaster ride of twists and scares that will have you jumping back in fright — and then laughing at yourself once you’ve taken the headset off.“ Punkt eins hat recht gut geklappt bei mir, Punkt zwei wird ja vielleicht noch irgendwann mal.
Tatsächlich ist Midnight March die zweite Folge einer Mini-Serie mit derzeit zwei Folgen. Die erste habe ich nicht gesehen, da sie zwar bei Tribeca gezeigt wurde, jedoch nicht in der Virtual Arcade, sondern in der Horror-Schiene des 360-Grad-Kinos. Das war mir dann doch etwas zu viel. Ihr könnt es aber, wenn Ihr eine VR Brille besitzt: Seit dem 27. April sind beide Folgen veröffentlicht. Dafür müsst Ihr die App Dark Corner herunterladen (im Oculus Store oder direkt in der Samsung Gear oder Daydream Brille, Apps für Cardboard gibt es hier).
Im zweiten Teil meiner Tribeca-Erlebnisse erzähle ich mehr über Perspektivwechsel, Grenzgänger und Selbsterfahrungen! Bleibt gespannt.
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