Es gibt Menschen, die sehen immer ein klein wenig erstaunt aus. Als würde ihnen in jeder Sekunde erneut bewusst werden, wie verrückt und wundersam die Welt um sie herum ist. Daniel Bury ist so ein Mensch. Und wenn man ihn kennenlernt, dann will man ihm am liebsten sofort ganz viel von sich erzählen. Das mögen zwei der Gründe sein, warum er seit 2016 um die Welt reist – und dabei die erstaunlichsten Menschen trifft. Festgehalten hat er alles in einer Doku-Serie in 360-Grad namens Chasing The World. Damit ist er dieses Jahr bereits zum zweiten Mal bei Cannes NEXT vertreten.
Chasing The World VR ist als sechsteilige Serie konzipiert, gedreht in Myanmar, Nepal, den Philippinen, Marokko, Brasilien und Peru. Vier Folgen davon sind bereits fertig – und ich durfte sie mir ansehen.
Alles fing 2012 in Sumatra an: Daniel drehte mit Freunden dort eine traditionelle 2D Dokumentation. Die hieß bereits Chasing The World und gewann 2014 den ersten Platz für Dokumentarfilm beim ITVFest. Das Ziel war es, daraus eine ganze Serie zu machen. Doch wie das manchmal so ist, im Leben – Ziele verändern sich. Als Daniel die damals neu aufkommende VR-Technik für sich entdeckte, beschloss er, dass er die Serie künftig statt in 2D in 360-Grad machen würde. Und das komplett selbst-finanziert.
Chasing Transformation: Der Blick ins Unbekannte
Ich habe eine Mission. Ich will die Wirklichkeit erleben aus der Sicht von verschiedenen Menschen und Kulturen auf der ganzen Welt.
Mit diesen Worten lässt Daniel die erste Episode, die in Myanmar spielt, beginnen. Und er hält, was er verspricht.
Die Serie ist gelebte Lust am Reisen. Das hat sie mit vielen Youtubern gemein, die in ihren Travel-Vlogs immer neue Abenteuer anpreisen. Von ihnen hat sich Chasing The World-Autor Daniel Bury einen entscheidenden Kniff abgeschaut: Wie sie führt er persönlich durch jedes Land. Man sieht ihn, wie er das Stativ hält, man beobachtet, wie er mit den Dorf-Kindern spielt, man sitzt neben ihm auf dem Dach eines Busses und fährt mit ihm zusammen Boot. Seine Stimme begleitet den Film aus dem Off. Er ist der rote Faden, der alle Folgen miteinander verbindet. Man fühlt sich dadurch sehr gut aufgehoben. Doch das bleibt das Einzige, das Daniel mit Youtube gemeinsam hat. Jenseits von Lonely Planet und „Du-Musst-Unbedingt“ Listen führt Chasing The World an Orte, die man als normaler Tourist nicht so einfach zu sehen bekommt. Und damit dahin, wo ein Medium wie VR erst richtig spannend wird.
Wie er sich vorbereitet hat, wollte ich wissen:
Natürlich habe ich vorab ein wenig recherchiert. So hatte ich eine grobe Ahnung davon, auf welche Art von Erlebnissen oder Menschen ich treffen würde. Trotzdem gibt es nur eine Möglichkeit, wenn man sich abseits der Touristenpfade bewegen will: Man muss persönlich eingeladen werden. Alles auf meinen Reisen geschah komplett ungeplant. Ein Beispiel ist U Kyi Thaw, ein Revolutionär und Poet aus Burma, den ich im Zug von Bagan nach Mandalay getroffen habe. Er lud mich ein, am nächsten Tag mit ihm zusammen weiterzureisen durchs Land. Alles war sehr spontan. Die Menschen und die Geschichten haben mich gefunden.
Und immer geht es um Veränderungen. Von U Kyi Thaw, der für Demokratie und freie Meinungsbildung kämpft, wird Daniel zu einer Lesung eingeladen, bei der sich Dichter aus Myanmar treffen und gemeinsam über Politik diskutieren. Noch vor wenigen Jahren wären sie in große Schwierigkeiten geraten, hätten sie einen Ausländer dorthin gebracht. In Marokko besucht Daniel eine Nomaden-Familie in den Bergen und erzählt, wie sich das Leben der nomadischen Völker in Marokko im Laufe der Jahre verändert hat. Der Film über die Philippinen zeigt all die schönen Tourismus-Ziele, weiße Strände, idyllische Inseln. Doch dann kontrastiert Daniel diese Bilder hart mit der Realität dahinter: Dörfer inmitten von Müllhalden und Menschen, die nach dem wenigen Essbaren im Abfall graben. In Nepal reist er mitten durch das Epizentrum des verheerenden Erdbebens von 2015. Fast jeder, der dort lebt, hat damals Familienmitglieder und das Zuhause verloren. Nach und nach bauen die Bewohner ihre Häuser wieder auf, und obwohl sie kaum selbst etwas haben, laden sie Daniel zu sich zum Essen ein. Die Kamera ist immer mit dabei.
Beim Drehen lernte Daniel nach und nach die Regeln für Filme in 360-Grad. Ich habe ihn um ein paar Tipps gebeten:
Wenn man eine Einstellung dreht, in der sich die Kamera bewegt, dann muss sie immer an einem Objekt oder einem Fahrzeug befestigt sein, das auch in Bewegung ist. Die Kamera sollte sich niemals unabhängig bewegen, denn sonst kann es den Zuschauern später schlecht werden. Außerdem sollte die Kamera immer auf Augenhöhe stehen. Es war großartig, im Guerilla Stil eine 360-Grad-Dokumentation zu drehen, weil ich die Kamera nie auf irgendjemanden direkt richten musste. Sie war diskret und filmte einfach in alle Richtungen, so dass sich die Menschen sehr natürlich verhielten. Ich denke, das ist sogar die effektivste Art, einen Dokumentarfilm zu drehen. Denn die Leute hatten nie Hemmungen vor der Kamera und haben agiert wie sonst auch.
Chasing Wisdom: Begegnungen, die prägen
Und ja, es stimmt: Besonders lebt die Serie von den Begegnungen, die Daniel auf seinen Reisen macht. Der emotionalste Moment für mich war, als eine Philippinerin erzählt, wie sie sechs Münder stopfen muss, allein mit dem Wenigen, das sie im Müll zusammensuchen kann. Es ist eine kurze Szene, die nachwirkt. Und es ist nicht die einzige. Der Dichter U Kyi Thaw aus Myanmar erzählt Daniel, wie er und seine Frau unter der Militärherrschaft ins Gefängnis geworfen und dort gefoltert wurden. In Nepal ist Daniels Begleitung ein junger Mann namens Hari Roka. Es ist sein Heimatdorf im Himalaya-Gebirge, das vom Erdbeben zerstört wurde und wohin er Daniel führt.
Wenn ich mal zurückdenke, dann war mein Plan, Chasing The World ganz auf mich allein gestellt zu machen, die dümmste Idee überhaupt. Aber irgendwie habe ich es durchgezogen. Ich habe versucht herauszufinden, wie man eine Geschichte in 360-Grad erzählt, während ich zur gleichen Zeit und in den entlegensten Ecken der Welt nur aus meinem Rucksack lebte. Jeder Tag war eine neue Herausforderung. Meine Kamera-Halterung ist ständig kaputt gegangen, ich konnte mich kaum mit den Einheimischen verständigen und schleppte meine ganze Ausrüstung alleine. Hari habe ich in einem Bus getroffen, und bin ihm ganz spontan in ein kleines Flugzeug gefolgt, das uns in eine abgeschiedene Ecke vom Himalaya gebracht hat. Als es ankam, mussten wir noch einen halben Tag wandern bis zum nächsten Dorf, mit meinem ganzen Gepäck. Und von dort aus mussten wir tagelang durch die Berge trampen. Mein Rücken hat sich von diesem Abenteuer nie ganz erholt. Am Ende jeden Tags habe ich dann noch 4 Stunden lang das ganze Material von den SD Karten gesichert.
Chasing Life: Große Emotionen durch Musik und Schnitt
Den richtigen Rhythmus zu finden bei 360-Grad-Filmen, insbesondere bei Dokumentationen, ist nicht einfach. Schneidet man zu schnell, so verlieren die Zuschauer die Orientierung und können der Geschichte nicht mehr folgen. Ist es zu langsam, so wird es sehr schnell langweilig. Oder, wie Daniel es erklärt:
360-Grad ist ziemlich knifflig, weil es alle Regel des Schnitts über den Haufen wirft. Als erstes muss man als Cutter den Zuschauern in jeder Szene etwas Zeit geben sich umzuschauen. Deswegen ist es so wichtig, die Einstellungen nicht zu schnell zu wechseln. Man muss die wichtigsten Elemente der Szene immer im Zentrum und an einer Stelle positionieren. Dabei sollte man versuchen, vorauszusehen, wohin die Zuschauer aller Wahrscheinlichkeit nach hinschauen am Anfang und am Ende jeder Einstellung. Text und Dialoge können natürlich auch verwendet werden, um die Zuschauer subtil zu lenken.
Daniel wechselt ruhige Landschaftsbilder ab mit Zeitraffern, zeigt intime Gespräche mit Menschen, die er auf seinem Weg trifft, und dazwischen Szenen aus deren Leben. Er gibt Raum zum Nachdenken, Raum zum Sich-Umschauen – doch das nie zu viel. Und die Musik, genau passend eingesetzt, unterstützt die Atmosphäre und bringt in so manchem Augenblick das ganz große Gefühl. Bei all dem kann man gut über ein paar wacklige Einstellungen oder Unschärfen hinwegsehen, die beim Reisen eben auch dazugehören. Was zählt, ist das Empfinden, dabei gewesen zu sein. Und das schafft Chasing The World mit Bravour.
Am Ende habe ich Daniel noch gefragt, was für ihn gutes Storytelling in 360-Grad ausmacht:
Meiner Meinung nach ist Virtual Reality am spannendsten, wenn sie die wahre Welt zeigt. Viele 360-Grad- oder VR-Dokumentationen sind gescriptet. Ein Team geht zu einem Drehort, hat eine Shot-List dabei und manipuliert die Realität dann so, wie es das Drehbuch vorschreibt. Ich finde, die Realität sollte sich ganz natürlich entfalten können, und der Filmemacher sollte sie dabei einfangen. Natürlich braucht man eine Art von Plan oder Script. Aber Filmemacher sollten es auch zulassen, dass das Chaos der Welt seinen Zauber zeigt. Wenn das richtig gemacht wird, dann sind die daraus entstehenden Geschichten und Augenblicke überwältigend.
Über Daniel Bury
Daniel hat einen beruflichen Hintergrund, der wie gemacht scheint für 360-Grad-Filme und VR: Er hat Filmregie und Digital Arts an der Chapman University in Kalifornien studiert, und nach seinem Abschluss als traditioneller Filmemacher und als VFX Artist gearbeitet, sowohl in den USA als auch in Australien. Doch alles änderte sich, als er VR entdeckte und beschloss, damit zu experimentieren.
Daniel und ich kennen uns flüchtig aus Berlin. Doch dann sind wir beide relativ viel herum gereist – eine Leidenschaft, die wir teilen – und haben uns aus den Augen verloren. Zufälligerweise waren wir dann aber ein paar Tage lang zur gleichen Zeit in New York. Bei einem Kaffee erzählte er mir, dass bereits die zweite seiner Episoden beim Cannes Film Festival Premiere haben würde. Nach der Myanmar-Folge in 2017 ist er dieses Jahr mit dem Nepal-Film zu Cannes NEXT eingeladen, dem Marktplatz für VR beim Filmfestival von Cannes. Dort kann man sich noch bis zum 13. Mai in der VR Library nach Nepal zaubern lassen. Grund genug, endlich über Chasing The World zu schreiben!
Meine Fragen hat mir Daniel übrigens alle schriftlich beantwortet, denn er jettet bereits wieder um die Welt und ist aktuell in seiner Wahlheimat Australien. Dort dreht er gerade für eine Auftragsproduktion – natürlich in 360-Grad. Wer mehr über Daniel erfahren will, kann dieses schöne Interview bei Mettle lesen oder ihm auf Twitter folgen. Seine Serie ist noch nicht veröffentlicht, aber er ist gerade in Verhandlungen. Wer es nicht nach Cannes schafft, kann immerhin ein paar Eindrücke auf seiner Website finden.
Und für alle, die sich noch mehr mit Dokumentarfilm in 360-Grad beschäftigen möchten: Lest auch mein Interview mit der Filmemacherin Ricarda Saleh.