Endlich darf ich über die Liebe schreiben. Ja, die Liebe. Meine Liebe ist groß für das Venediger Filmfestival und für dessen wunderbare VR-Sektion. Doch die Liebe spielt dieses Jahr auch noch eine ganz andere Rolle…. Nehmt Platz, denn heute geht es um Loveseat.
Wiedersehen mit dem Lazzaretto Vecchio
Da bin ich also wieder: auf der kleinen Insel Lazzaretto Vecchio, die einmal im Jahr von den Internationalen Filmfestspielen Venedig in Beschlag genommen wird.
Die ersten Besucher stehen für ihren morgendlichen Cappuccino an, einige fächern sich Luft zu, es ist jetzt schon warm. Aus den Lautsprechern schmettert uns Maria Callas entgegen und zaubert allen Umstehenden ein Lächeln ins noch müde Gesicht.
Die Mitarbeiter des Kaffeestandes trällern fröhlich mit. „L’amour est un oiseau rebelle“, Carmens berühmte Arie, singen sie beim Brötchenschmieren und Milchaufschäumen.
L’amour, amore, die Liebe. Darum geht es auch in einem ganz außergewöhnlichen Projekt, das dieses Jahr in Venedig seine Weltpremiere feiert. Denn halten wir nicht alle Ausschau nach dem perfekten Partner? Anders als zu Zeiten von Carmen und ihrem Don José, die ganz offensichtlich nicht die Richtigen füreinander waren, können wir heute die Liebe auf viele Arten suchen. Nicht nur auf Tinder, nein, auch in Live-Shows.
Loveseat macht sich auf die Suche nach der Liebe
Gesagt, getan. Die Sonne brennt draußen auf die Sonnenschirme und die Luftfeuchtigkeit bringt uns zum kollektiven Dauerschwitzen. Doch ich stehe im kühlen Inneren einer der Installationen, die dieses Jahr bei Venice VR noch großer und prächtiger sind als im Vorjahr. Hier werde ich gleich ein rund 40-minütiges Theaterstück sehen.
Die Stimmung im Raum vibriert, alle sind auf eine fröhliche Weise angespannt, wie ich es nur zu gut von Theaterbesuchen kenne. Drei Schauspieler springen inmitten der eintretenden Besucher hin und her, schütteln ihre Hände, werfen ihnen ein Lächeln zu, führen sie zu ihren Plätzen.
Sich gegenüber, an beiden Seiten des länglichen Raumes, stehen stufenweise angeordnete Sitzbänke für rund 50 Personen, ein Amphitheater im Rechteck. Darüber, an allen vier Wänden, hängen große Leinwände. Denn wir sehen die Aufführung heute zweimal – gleichzeitig. Während wir Loveseat hier im Raum, in der echten Welt erleben, findet es parallel auch in Virtual Reality statt. Die Leinwände geben uns einen Einblick in die virtuelle Aufführung.
Die drei Schauspieler treten in die Mitte des Raumes, sie tragen Tracker an beiden Füßen und an der Hüfte und VR-Brillen auf dem Kopf. Sie sind schon in der bunten VR-Welt, während wir hier ihre Körper sehen. Der Gastgeber (gespielt von Sam Kebede) eröffnet die Show.
Der leere Stuhl
Die beiden Singles Abby (gespielt von Jenn Harris) und Bruce (Jonathan David Martin) leben Tür an Tür, oder zumindest liegen ihre Gärten in direkter Nachbarschaft zueinander. Abby hat der Liebe für immer abgeschworen, aber sie sorgt liebevoll für ein Bienenvolk, das in ihrem Garten wohnt. Wild und frei muss die Natur sprießen können, findet sie, und so soll auch ihr Leben sein.
Bruce ist – natürlich – ganz das Gegenteil. Sein Garten ist bis auf den letzten Halm getrimmt, der Baum ein akribisch gestutzter Kubus. Ein bisschen erstaunlich mutet es da schon an, dass ausgerechnet er sich von Menschen mit Bärten angezogen fühlt. Zur Not mag er aber auch Menschen ohne Bärte, es ist kein Dealbreaker, sagt er. Jedenfalls stören ihn Abbys Bienen sehr, denn sie fliegen in seine so geordnete Welt.
In der berühmten Show Loveseat (weder Abby noch Bruce haben je von ihr gehört) müssen die beiden nun um ihren perfekten Partner werben. Der ist, oh Überraschung, gar kein Mensch – sondern ein leerer Sessel. Für Abby und Bruce sieht er jedoch ganz anders aus…
Der Stuhl als Symbol für Einsamkeit, so erklärt mir Regisseurin Kiira Benzing später, sollte bewusst leer bleiben. So kann auch das Publikum mit seinen eigenen Projektionen spielen und sich den perfekten Partner in dem Stuhl vorstellen. Eine Idee, die übrigens in einer AR-Erfahrung aufgegriffen wird, die nur mit Ton und den Audio-Sonnenbrillen von Bose arbeitet.
Zwei Stücke für zwei Publika
Die Produktion von Loveseat war, als würde man parallel zwei Stücke inszenieren – in der „realen“ Welt und in Virtual Reality. Zum einen war es eine ganz normale Theaterproduktion, mit Kostümbildern, Bühnenbildnern, und all den klassischen Gewerken des Theaters.
Auf der anderen Seiten waren da die noch unbeschrittenen Wege in VR. Das Team hat die virtuelle Bühne für Loveseat eigens in der Social VR Plattform High Fidelity erschaffen, Effekte wie Schrumpfen oder Fliegen wurden programmiert.
Die Schauspieler mussten lernen, sich mit VR-Brille auf dem Kopf, Controllern in den Händen und den HTC Vive-Trackern am Körper zu bewegen. Während sie ihre Rolle spielen, steuern sie zusätzlich die Gegenstände in VR und reagieren auf das in der realen wie in der virtuellen Welt um sie herumsitzende Publikum.
Auch das Stage Management System musste erst einmal gebaut werden. Während jeder Theateraufführung sieht es hinter den Kulissen aus wie in dem News-Raum eines Fernsehsenders: Live werden hier Kamerapositionen und Bildausschnitte ausgewählt und auf die Leinwände im Bühnenraum projiziert.
“Mac, wir können fliegen!“
Bei jeder Show in Venedig arbeitet ein Team von dreizehn Personen vor Ort, die Schauspieler eingeschlossen. Auch bis zu zwei Mitarbeiter aus New York sind in VR dazugeschaltet. Herrin über das Spektakel ist Kiira Benzing, deren letztes Projekt Runnin‘ vor Kurzem erst als beste interaktive Erfahrung von der Virtual Cinema Jury bei SXSW 2019 ausgezeichnet wurde.
Sie kommt als Schauspielerin selbst aus der Theaterwelt. Nach ihrer Ausbildung, unter anderem an der renommieren Schauspielschule LAMDA, der London Academy of Music & Dramatic Arts, ist sie jedoch erst einmal zum Film gegangen und hat schließlich Double Eye Studios gegründet. Ihre Arbeiten in Virtual Reality seien für sie auch eine Rückkehr zum Theater, erzählt sie mir bei einem Interview am Rande des Festivals.
Die Liebe zum Theater merkt man Loveseat deutlich an, denn auch der Autor des Stücks, Mac Rogers, ist ein alter Hase im Theater-Geschäft. Das lässt sich nicht nur an humorvollen Dialogen erkennen („Ein Bart? Das ist kein Bart, das ist ein Kinn!“). Für das Skript hat er mit Kiira zusammen gearbeitet, erzählt mir diese:
Dieses Projekt war sicher ein sehr besonderes für ihn. Er wollte eine enge Kollaboration. So hatte er auch mit mir zu tun, die ich ihm erzählte ‚Mac, wir können fliegen! Wir sollten eine Flugszene haben.‘ Und ‚Das ist kein Problem, sie kann ein Objekt ganz einfach bewegen, es hat ja kein Gewicht in VR.‘ Wir können mit der Physik spielen und haben all diese Möglichkeiten, die wir nicht haben in der Welt, in der wir leben. Wir können also genauso gut damit experimentieren, alles erkunden. So haben Mac und ich uns durch das Skript gearbeitet. Er fragte mich nach einer Liste von Ideen und Dingen, die ich gerne im Stück reflektiert sehen wollte. Davon übernahm er einige. Als er das Skript dann überarbeitete, sind wir noch weitergegangen und haben es so verändert, dass deutlich wird, zu was das Medium VR fähig ist.
Zusammenspiel zwischen realer und virtueller Welt
Genau dieses Ausloten von Möglichkeiten macht für mich den Charme von Loveseat aus. Kiira und ihr Team probieren aus, sie jonglieren mit unterschiedlichen Genres und Formaten und dehnen die Grenzen dessen, was technisch möglich ist.
Vor allem für das Publikum in der realen Welt ist dies spannend. Denn nicht nur, dass Abby eine Flugszene hinlegt, sie verwandelt sich auch später… – doch hier will ich nicht zu viel verraten. All das ist möglich durch VR und dank der Bildschirme im Hintergrund der realen Bühne, die das Geschehen in der virtuellen Welt begleiten. Das Theaterpublikum kann dort ein zweites, ein anderes Stück verfolgen als dasjenige, das wir vor uns auf der Bühne erleben.
Bei all der Experimentierfreude liegt es in der Natur der Sache, dass nicht alles funktioniert. Besonders gut haben mir die Szenen gefallen, in denen die VR-Ausrüstung, die die Schauspieler in der Realität trugen, auch eine Entsprechung bei ihrem virtuellen Avatar fanden. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn Abby ihr Gesicht mit Hut und Schleier vor den Bienen schützt und ihre Pflanzen mit dem Gartenschlauch wässert. In diesen Momenten wachsen Realität und Virtualität enger zusammen.
In anderen Szenen fehlten mir jedoch wesentliche Elemente des Theaters. Denn ein intimes Zusammenspiel zwischen den Schauspielern ist durch die VR-Ausrüstung kaum möglich.
Auf ähnliche Schwierigkeiten seien sie auch in der virtuellen Inszenierung gestoßen, erzählt mir Kiira. Am Anfang habe es sich angefühlt wie eine Inszenierung mit Puppen und Masken, sagt sie. Doch nach und nach hätten sie ihre eigene Sprache entwickelt:
Als ich anfing, mit der Plattform High Fidelity zu arbeiten und Schauspieler in die Körper von Avataren zu stecken, war meine größte Sorge: Wie können sie eine echte Verbindung zu ihrem Szenenpartner aufbauen, wenn sie keinen Blickkontakt haben, wenn all diese Details in ihren Bewegungen fehlen, wenn sie ihren Partner nicht berühren können? Wie können sie überhaupt in dieser Welt bestehen? Das führte zu einer Studie, die wir zusammen mit einigen Kollegen in New York für High Fidelity gemacht haben: Wir untersuchten, welche Typen von Avataren für ihre Körper Sinn machten. Und tatsächlich bekommen sie eine ganze Menge voneinander: Sie mögen vielleicht keinen perfekten Blickkontakt haben, es gibt keine perfekt synchronen Lippenbewegungen. Aber sie finden Wege, miteinander einen emotionalen und aufrichtigen Kontakt aufzubauen.
Ein Prototyp mit großem Potential
Um auch dem Publikum live vor Ort diese Verbindung zu den Schauspielern – und somit zur Geschichte – zu ermöglichen, nehmen Abby und Bruce ihr Headsets immer wieder ab. Wann immer das geschieht, verschmilzt das Geschehen auf der Bühne auf fast magische Weise mit der bunten Zauberwelt der Bildschirme. Gerne hätte ich mehr solcher Augenblicke erlebt während des Stücks.
Das gilt jedoch nur für das Theaterpublikum der Realität, in VR „frieren“ die Avatare in diesen Schlüsselszenen für einige Momente ein. Mit einer Ausnahme: Am Ende des Stückes – die reale Abby hält einen emotionalen Monolog, bei dem sie ihr VR-Headset abnimmt – entwickelt die virtuelle Abby ein fast unheimliches Eigenleben und verfällt in eine endlose Wiederholung aus kleinen Gesten und Lippenbewegungen. Wie wäre es gewesen, wenn das Experiment hier noch weiter gegangen wäre, wenn die virtuelle Abby sich vollends von ihrem realen Ich emanzipiert hätte?
Ich habe Loveseat zwei Mal gesehen, einmal in Venedig und einmal in Virtual Reality von zuhause aus. Noch bietet das Stück aus meiner Sicht ein spannenderes Erlebnis für das Publikum vor Ort. Aus diesen Gründen ist das Experiment für mich noch lange nicht vollendet. Es ist ein erster Schritt, ein Prototyp einer neuen Theaterform, die es jetzt weiterzuentwickeln gilt – für beide Welten.
Loveseat kombiniert Social VR mit Live Theater
Kiira liegt besonders das Zusammenspiel zwischen den beiden Zuschauergruppen am Herzen. Ein wenig spielt sie schon jetzt damit, wenn sich das Publikum vor Ort und das VR-Publikum zu Beginn von Loveseat gegenseitig über die Bildschirme hinweg zuwinken sollen. In Zukunft, und mit immer fortschrittlicher Technik, möchte sie solche Begegnungen ausbauen.
In Venedig, für diejenigen bei der (realen) Theateraufführung, lebte das Stück vom Kontrast zwischen der bunten Zauberwelt auf den Leinwänden und der fast minimalistischen Inszenierung im Raum. Das hätte auch ohne Virtual Reality erreicht werden können. Warum also all die Mühe, will ich von Kiira wissen. Warum legt sie so viel Wert auf die zusätzliche Social VR Erfahrung?
Ich denke, dass wir als Menschen, ganz tief in uns, immer nach Wegen suchen, uns miteinander in Verbindung zu setzen. Wir wollen den Moment zusammen verbringen. Wir wollen eine geteilte Erfahrung, eine gemeinsame Erfahrung. Ins Theater gehen, zu einer Tanz-Aufführung oder in ein Konzert – das sind Dinge, die wir mit anderen tun. Und ich habe bislang noch keine wirklich story-basierten und speziell für VR geschriebenen Inhalte dafür gesehen. So etwas wollte ich erschaffen für ein Publikum, das sicher noch wachsen wird. Und wenn ich dabei helfen kann, bedeutungsvolle Inhalte für die sozialen VR-Welten zu kreieren, dann haben die Menschen in diesen Welten auch bedeutungsvolle Erfahrungen.
Welch schöne Worte. Ich freue mich darauf, weitere Experimente von Kiira und ihrem Team zu sehen. Auf dass sie Social VR mit ihren Theaterstücken revolutionieren!
Und nun, liebe Leserschaft: Wer nimmt auf Eurem Liebessitz platz?
Ihr wollt mehr wissen?
Wie sich das Theater beim letzten Venediger VR-Festival geschlagen hat: Lest hier einen Rückblick von 2018.
Und ein schönes Interview mit Kiira Benzing und den drei Loveseat-Schauspielern findet Ihr auf Loud And Clear Reviews.