Warum liebe ich Filmfestivals so sehr? Ein Grund ist, dass ich immer wieder überrascht werde. Nur auf Festivals stößt man bisweilen auf Perlen, die man ansonsten vielleicht niemals zu Gesicht bekommen hätte. Das gilt für klassische Filme – und noch mehr für Virtual Reality-Erfahrungen. Der VR-Animationsfilm Lucid war genau solch eine Entdeckung für mich bei Venice VR, wo er seine Weltpremiere feiern konnte. Das mitreißende Abenteuer rund um ein Mutter-Tochter-Duo stellt die ganzen großen Fragen des Lebens – und zeigt fast nebenbei, wie sich eine Geschichte meisterhaft in VR erzählen lässt.
Lucid ist eine Achterbahnfahrt zwischen zwischen Leben und Tod
Der Film beginnt mit einer sonderlichen Szene: Astra, eine junge Frau, steht inmitten einer dunklen Unterwasser-Welt und spricht mit einer unsichtbaren Person. Schnell stellt sich heraus, dass Astra sich gar nicht in der Realität befindet, sondern ein Eindringling in einem fremden Bewusstsein ist. Es ist das ihrer Mutter Eleanor, einer berühmten Kinderbuchautorin, die nach einem schweren Unfall im Koma liegt. Mit Hilfe einer neuen Technologie und einem Helm, aus dem jede Menge Kabel ragen, hat sich Astra in den Kopf ihrer Mutter begeben. Sie will sich von ihr verabschieden. In der realen Welt sitzt Astra, akribisch überwacht von einem Wissenschaftler, mit dem sie über Funk kommuniziert, neben dem Bett ihrer todkranken Mutter.
Durch Astras Anwesenheit in Eleanors Bewusstsein geschieht etwas Unerwartetes: Eleanors Geist wird nach und nach wieder aktiv. In ihrem Koma-Traum schlüpft sie in die Gestalt ihrer Lieblings-Figur aus ihren eigenen Büchern. Vergnügt springt sie in ihrem Baumhaus hoch über den Baumwipfeln herum, als die erstaunte Astra auf sie trifft. Doch Eleanor weiß weder, dass ihr Körper im Krankenhaus liegt, noch erkennt sie ihre Tochter wieder. Davon lässt Astra sich nicht aufhalten. Um Eleanors Erinnerungen wieder vollständig zu herzustellen und sie aus dem Koma aufzuwecken, beschließt sie mutig, ihre Mutter durch die Fantasiewelt ihrer Kindheit zu begleiten.
Was folgt, ist eine atemlose Fahrt durch bruchstückhafte Szenen aus Eleanors Leben und ihren Büchern. Dabei zeigt das Team der Londoner Produktionsfirma Breaking Fourth, dass sie das filmische Erzählen in immersiven Welten vortrefflich beherrschen. Das Baumhaus, ein dunkler Wald, eine Eiswüste, die umhersausende Flugkapsel, all das konnte ich hautnah in VR erleben. Die bunte Welt in Eleanors Kopf ist abwechslungsreich, voller phantasievoller Details und perfekt auf das visuelle Erlebnis in VR abgestimmt. Dabei vereint Lucid das beste aus VR und Film.
Filmdramaturgie trifft auf VR
Denn auch wenn es in VR so viel schöner und immersiver ist – die Geschichte wäre sicherlich auch als klassischer Kurzfilm in „2D“ hervorragend geworden. Der nur 16 Minuten lange VR-Film fühlte sich für mich an wie ein abendfüllender Spielfilm. Das liegt vor allem auch an dem kunstvoll erdachten Drehbuch, von dem es im Laufe der Entwicklung sieben Fassungen gab. Geschrieben hat es der Autor Islay Bell-Webb in enger Zusammenarbeit mit den Produzenten. Die Regie führte der Australier Pete Short.
„Lucid ist eine Geschichte über Liebe, Abenteuer und Loslassen.“ schreibt Pete Short im Pressematerial. „Ich habe lange darauf gewartet, diese Geschichte erzählen zu können. VR macht dies endlich möglich in einer Weise, die der Geschichte gerecht wird. Das Publikum bekommt Zugang zu Eleanors Bewusstsein und erlebt dort die letzten, intimen Momente zwischen Mutter und Tochter.“
Entstanden ist eine Liebeserklärung an die tiefe Bindung zwischen den beiden Frauen. Dabei spricht der Film Fragen zu Leben und Tod an, mit denen sich jeder Mensch irgendwann auseinander setzen muss.
Ich gebe es nicht gerne zu (wer will nicht möglichst taff wirken…) – aber genau zwei VR-Erfahrungen in Venedig haben mich zum Weinen gebracht. Lucid war eine von ihnen. Umso überraschter war ich, als ich mir nach dem Film die Brille vom Kopf zog, und direkt in die zwei lächelnden Gesichter von David Kaskel und Ken Henderson starrte, den beiden Produzenten und Gründern von Breaking Fourth. Nachdem ich mich wieder etwas gefangen hatte, konnten wir uns ein wenig unterhalten, bevor ich zur nächsten VR-Vorführung rennen musste.
Der Aufbau: Wie erzählt man einen VR-Kurzfilm?
Breaking Fourth-CEO David Kaskel, der die erste Idee für den Film hatte, gab mir am nächsten Tag ein ausführliches Interview. Ich wollte gerne wissen, was für ihn eine gute Geschichte in VR ausmacht und warum er gerade dieses Thema für Lucid gewählt hat. Es sei, so sagte er, bei Kurzformen für VR besonders wichtig, dass die Leute die emotionalen Hauptelemente schnell verstehen können.
„Warum habe ich diese Themen gewählt? Es gibt bereits ein großes Bewusstsein dafür, was am Ende des Lebens passiert, wie auch eine Menge Ideen über die Beziehung zwischen Müttern und Töchtern. Bei einem Film unter 20 Minuten suchen wir nach etwas, das wir uns sehr schnell erschließen können. Wir wissen aber auch, dass die Leute aufgrund der Komplexität von VR nicht so viel Aufmerksamkeit zeigen können für das, was um sie herum geschieht. Die Leute möchten oft einfach den Raum visuell erkunden, in VR lassen sie ihre Gedanken mehr schweifen.
Für uns ist es wichtig, einen emotionalen Nerv zu treffen. Ich denke auch, um einen breiteren Markt anzusprechen, sollten wir uns mit den eher größeren Themen beschäftigen – ob es nun Verlust ist oder in manchen Fällen Gewalt, oder auch innige Liebe oder Sehnsucht. Wir versuchen voraus zu denken: Wie können wir einen großen Erzählbogen erschaffen, der das aufgreift und der jemanden durch die Geschichte führt?“
Besonders beeindruckt hat mich der Aufbau der Erzählung, die keineswegs chronologisch verläuft – sondern mitten in der Handlung der ersten Szene einsetzt. Die Hintergrundgeschichte erfährt man erst nach und nach. Im klassischen Film ist das recht häufig, in VR habe ich das bislang nur selten gesehen. David verriet mir, warum der Filmanfang in Lucid so gut funktioniert:
“Auch hier: Wir wollten die Leute sehr schnell in die Geschichte führen. Deswegen haben wir sie zu Beginn genau dorthin, genau in diesen Moment gebracht. Ich denke auch, dass Geheimnisse die Zuschauer eher hineinziehen. Deswegen sollte man ihnen genügend Hinweise geben, um den Anfang zu verstehen, aber auch offene Fragen lassen, so dass sie sehen wollen, wie es weiter geht. Direkt dort zu beginnen und erst dann die Hintergrundgeschichte einzuführen hält die Spannung der Geschichte aufrecht. Warum sagt sie diese Dinge? Was ist gerade passiert? Warum ist sie dort überhaupt hingegangen? Dafür muss man ein wenig vor und zurück springen.“
Dabei sei ihnen auch wichtig, dass die Zuschauer unterhalten werden. Und das gelingt ihnen hervorragend.
Die Protagonisten: Astras und Eleanors Reise
Schuld daran ist nicht zuletzt Eleanor, eine quirlige Dame mit viel Humor und einem ziemlichen Dickkopf. Schon nach den ersten Minuten hatte ich sie für immer ins Herz geschlossen. Damit die rasante Reise durch ihre Erinnerungen möglichst akkurat dargestellt werden konnte, ließ sich das Team von zwei Neurowissenschaftlern mit – so viel darf ich sicher verraten – Spezialisierung in Demenz beraten. Sie beurteilten, wie realistisch einige der Situationen sind, ob bestimmte Erinnerungen auf andere folgen können. Dabei wechseln sich Momente der Klarheit ab mit Erinnerungslücken, Wiedererkennen mit Vergessen. Immer wieder springt der Film außerdem zwischen Eleanors Vergangenheit und ihrer Fantasiewelt hin und her. Was den Experten dabei nicht plausibel genug erschien, wurde gestrichen, so David.
Doch auch wenn Eleanor und ihre Erinnerungen so plastisch sind, so mitreißend, die Hauptfigur der Geschichte ist Astra. Sie ist es, die im Laufe des Filmes eine starke Entwicklung durchmacht. Für David war das Verhältnis zwischen Kind und Eltern besonders wichtig:
„Unser Team war vom Alter her gemischt. Ich bin in meinen 50ern und der Älteste der Gruppe, aber es waren auch 20-Jährige dabei. Jeder von uns hatte eine andere Sicht auf die Verantwortung von Eltern ihren Kindern gegenüber, und was die Verpflichtungen der Kinder gegenüber ihren Eltern sind. Das war etwas, dem ich unbedingt weiter nachgehen wollte; auch meine Eltern sind mittlerweile älter. Deswegen habe ich zusammen mit dem Autor sehr lange daran gearbeitet, dass Astra am Ende zu einer Art Akzeptanz kommt. Es ist ihre Reise. Sie trägt eine Menge Wut in sich, doch sie sollte letztendlich auch verstehen, wie es für ihre Mutter ist.“
Erzählt ist der Film komplett in der dritten Person, die Zuschauer nehmen selbst keine Rolle ein, sondern sind stille Beobachter. Das Breaking Fourth-Team hat sich bewusst gegen eine First-Person-Perspektive oder gar interaktive Szenen entschieden. Sie wollten den Handlungsverlauf und die Entwicklung der Protagonisten so nah wie möglich und ohne Unterbrechungen erzählen
UPDATE Februar 2019: Lucid ist ab jetzt bei Viveport erhältlich
Gesehen habe ich den Film als Roomscale-Erfahrung auf einer Oculus Rift. Tatsächlich sind viele Szenen im Film jedoch eher auf eine 180-Grad-Perspektive ausgelegt, bei der ich zwar die Welt um mich herum erkunden, der Geschichte aber auch bequem im Sitzen folgen konnte.
Der Grund dafür dürfte sein, dass Lucid auch als 360-Grad-Film erscheinen soll, irgendwann…
Zunächst allerdings, und jetzt springt schon mal vor Freude von euren Stühlen auf, ist Lucid seit Ende Februar 2019 erhältlich: exklusiv im Viveport-Store für HTC Vive und Oculus Rift und – wie schön! – in room-scale VR. Preis: 2,99 Euro. Das solltet Ihr auf keinen Fall verpassen!
Auf dem offiziellen Vive-Blog ist übrigens auch ein schönes Interview zu finden.
UPDATE April 2019: Seit Kurzem ist auch eine 360-Grad-Version des Filmes bei Veer.tv zu erwerben für Oculus Go und Oculus Rift. Wobei das vor allem für die Go-User unter Euch super Neuigkeiten sein dürften (Rift-Usern würde ich weiterhin die Roomscale-Version empfehlen). Erst einmal muss man sich dafür die App Veer herunterladen, dann kann man In-App-Käufe tätigen. Preis für Lucid ist hier 1,99 US Dollar.
Dieser Artikel erschien ursprünglich in einer ersten, kürzeren Version auf Deutsch bei VRODO.de.