These Sleepless Nights: Augmented Reality macht Politik

Auch beim Filmfestival von Venedig kommt man dieses Jahr nicht an der Magic Leap One vorbei. Und das ist gut so, denn gleich zwei interessante Projekte liefen auf der neuen Augmented-Reality-Brille. Eines von ihnen ist These Sleepless Nights, eine Dokumentation in AR und das neue Werk von Regisseur Gabo Arora.

Vier Wände

Ich stehe vor einem großen, weißen Kubus. Er leuchtet, scheint zu schweben, am Boden wächst ein wenig Gras. Doch davon abgesehen sehe ich erst einmal – nichts.

Der Kubus in Venedig
Die Installation in Venedig © Pola Weiß/ VR Geschichten

Das ändert sich, als mir eine Mitarbeiterin des Festivals eine Augmented-Reality-Brille aufsetzt, die Magic Leap One. Vor mir erscheinen Schriftzeichen, einige Zahlen, und dann soll ich den Kubus vor mir berühren. Je nachdem, wo meine Hände an der Wand entlang fahren, ertönt eine andere Stimme.

Ich beginne zuzuhören. Die Stimmen erzählen mir von ihrem Schicksal, von Briefen, von persönlichen Gegenständen, von Heimat, einem Zuhause und ihren Kindern. Kinder, die bald kein Zuhause mehr haben. Die Stimmen beschreiben, wie sie durch persönliche oder finanzielle Not in eine der schlimmsten Situation gekommen sind, die man sich in unserer an sich doch wohlhabenden Gesellschaft vorstellen kann: Zwangsräumung.

Um alle vier Kapitel der AR-Dokumentation zu erleben, muss ich um den Kubus herumgehen. Eine gute, fast zynische Idee: Ich sehe die vier Wände – meine vier Wände? – nur von außen. An jeder der Wände erwartet mich eines der vier Kapitel mit je einer anderen Art der Interaktion.

© The Next Amendment

So kann ich im zweiten Kapitel Gesichter per Blick ansteuern, im dritten mit den Händen in einen Fluss eintauchen und im vierten Kapitel durch eine Miniatur-Landschaft voller Täler und Berge gehen. Dabei höre ich in der von mir gewählten Reihenfolge die Stimmen und lausche ihren Erzählungen.

Der Fokus liegt auf dem Zuhören

Im Rückblick erzählen sie mir von der Zeit vor der Räumungsklage, von ihrem Fall bei Gericht, von dem Moment des Rauswurfs und den Monaten danach. Für fast alle von ihnen bedeutete der erzwungene Umzug dauerhafte, teils verheerende Folgen.

Eine Frau musste ihre Kinder vorübergehend in ein Heim geben, als sie wohnungslos wurde. Doch aus „vorübergehend“ wurde „dauerhaft“, die Kinder von einer weißen, wohlhabenden Familie adoptiert. Andere haben noch viele Jahre später Schwierigkeiten, eine neue Wohnung zu finden. Das Wort „Zwangsräumung“, „Eviction“, ist in ihrer Akte dick markiert.

These Sleepless Nights © LightShed, The Next Amendment
© LightShed, The Next Amendment

Die Augmented Reality-Erfahrung ist ganz auf die Erzählungen in Spatial Audio konzentriert, das Visuelle lediglich eine symbolhafte Annäherung. Köpfe werden nur einmal in abstrakter Form gezeigt, ansonsten bekommen die Stimmen kein Gesicht. Unterlegt wird das alles mit Musik von Starkomponist Philip Glass.

Wie mir Regisseur Gabo Arora und Sound-Designerin Lauren Hutchinson bei einem Interview in Venedig versicherten, war dies eine bewusste Entscheidung. Lauren erklärt ihre Herangehensweise so:

Es ging darum, dass echte Menschen ihre echten Geschichten teilen. Für die Audioaufnahmen sind wir nur mit einem Mikrofon zu ihnen gegangen, ohne Kamera. So haben sie sich uns gegenüber richtig geöffnet. Wir haben auch sichergestellt, dass wir die Aufnahmen an Orten machen, die sie selbst gewählt haben und an denen sie sich am wohlsten fühlten. So konnten wir diese starken Emotionen einfangen.

In These Sleepless Nights werden die Nutzer immer wieder gebeten, die Augen zu schließen und sich ganz auf das Gehörte zu konzentrieren. Die Menschen sollen einander wieder zuhören. Gabo Arora sagt dazu:

Es ist ein Kunstprojekt und eine Dokumentation, ein dokumentarisches Kunstprojekt. Jede Stimme ist real und außergewöhnlich. Ich denke, die Technologie verstärkt, wie außergewöhnlich die Stimmen sind, sie erweitert das. Deswegen ist es Augmented Reality, erweiterte Realität. Man ist in der Lage, dem mehr Beachtung zu schenken.

Gabo Arora, director of These Sleepless Nights © LightShed, The Next Amendment
Gabo Arora, Regisseur von These Sleepless Nights © LightShed, The Next Amendment

Gabo Aroras persönliche Beziehung zu dem Projekt scheint vor allem eine gesellschaftliche. Er, der er selbst aus einer Einwandererfamilie stamme, glaube noch immer an den amerikanischen Traum, erklärt er mir. Wenn man der Beste in einer Sache sei, so werde man in den USA dafür belohnt, mehr als in anderen Nationen. Doch das Land sei inzwischen vom Erfolg besessen. Und der amerikanische Traum ist längst nicht mehr für alle erreichbar, wie auch Gabo in seinem Director’s Statement betont.

These Sleepless Nights behandelt die Wohnungskrise in den USA

Der Einstieg in die AR-Audio-Welt von These Sleepless Nights ist abrupt, ohne allzu viele Erklärungen. Für mich als Nicht-Amerikanerin und vor allem als Deutsche ist das Projekt zunächst schwer zu verstehen. Denn im Mieterland Deutschland sind Mieter gesetzlich weit besser geschützt als in vielen anderen Ländern der Welt, die USA eingeschlossen.

Doch auch hierzulande ist der Druck durch steigende Mieten, knapper werdenden Wohnraum und immer weniger Sozialwohnungen deutlich zu spüren. Die Anzahl der Wohnungs- und Obdachlosen, oft als direkte Folge von Räumungsklagen und Mietschulden, steigt auch bei uns. Insbesondere wer ohnehin schon arm ist, kann durch Schicksalsschläge vollends aus der Bahn geworfen werden.

These Sleepless Nights, empty house © LightShed, The Next Amendment
© LightShed, The Next Amendment

Anders als beispielsweise in Großbritannien gibt es in Deutschland keine offizielle Statistik zur Wohnungs- und Obdachlosigkeit, die Zahlen basieren auf Schätzungen. Auch Daten zu Räumungsklagen sind selten, in Europa wie in den USA.

Deswegen widmet sich das der US-Eliteuniversität angegliederte Eviction Lab der statistischen Auswertung von Zwangsräumungen. Das Labor erfasst von Gerichten angeordnete Zwangsräumungen in den USA aus den Jahren 2000 bis 2016. Diese Zahlen sind es, die mir These Sleepless Nights unter anderem präsentiert. Gründer des Eviction Labs und Kopf des Wissenschaftler-Teams ist der Soziologe Matthew Desmond.

Zwangsgeräumt

2016 hat Desmond das später mit einem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Buch Evicted veröffentlicht, auf Deutsch unter dem Titel Zwangsgeräumt erschienen. Von diesem Buch ist die AR-Erfahrung These Sleepless Nights inspiriert.

Wie auch das Buch begleitet die AR-Erfahrung Mieterinnen und Mieter, die überwiegend in Milwaukee, Wisconsin, wohnen. Besonders oft trifft es dort arme Familien, so beschreibt es Desmond im Buch, unter ihnen vor allem afroamerikanische Mütter mit ihren Kindern. Auf sie stößt man auch in These Sleepless Nights. Und wie im Buch kommen bei der AR-Erfahrung nicht nur Mieter, sondern auch Vermieter, Richter und Gerichtsvollzieher zu Wort. So wird ein Rundumbild der Wohnungsnot in den USA gezeichnet, das erschreckend ist.

©  The Next Amendment

Lauren Hutchinson erklärt, warum sie beide Seiten in der AR-Erfahrung zeigen wollten:

Ich wollte es so schneiden, dass alle einigermaßen gleichberechtigt zu Wort kommen – um nicht Bösewichte zu zeigen, sondern zu verstehen, wie wir in dieser komplexen Situation gelandet sind, in der Menschen so schrecklich behandelt werden. Diese Leute sind daran beteiligt, sie rechtfertigen ihre Handlungen sich selbst gegenüber. Wir wollten sie besser verstehen, weil man einfach nicht vorwärtskommt, wenn man die Welt in Gut und Böse einteilt. Alle haben damit auf allen möglichen Ebenen zu tun. Und Audio ist eine sehr gute Möglichkeit, das zu zeigen.

The Next Amendment plädiert für Housing First

Produzent Edward Saatchi wollte der Situation nicht länger zusehen. Unabhängig von seiner Tätigkeit als Executive Producer und Mitgründer von Fable, dem Studio hinter dem VR-Film Wolves In The Walls, hat er die Initiative The Next Amendment ins Leben gerufen. Er lebt selbst in San Francisco in Kalifornien, dem von Wohnungslosigkeit am stärksten betroffenen Staat der USA.

Die Initiative fordert eine Änderung der Verfassung. Das Recht auf ein Dach über dem Kopf soll gesetzlich verankert werden. Dabei geht es Edward Saatchi nicht um bezahlbaren Wohnraum für alle, sondern um ein humanes Mindestmaß an Schutz, beispielsweise in Form von temporären Mini-Behausungen. Es gehe um „just shelter“ schreibt er auf VR Focus und bezieht sich damit auf die ebenfalls von Desmond gegründete gleichnamige Plattform für Aktivisten.

Vermieter können ihren Mietern aus vielerlei Gründen kündigen. Der Mieterschutz in den USA hängt stark von Wohnort und Mietvertrag ab. © LightShed, The Next Amendment
US-Vermieter können ihren Mietern aus vielerlei Gründen kündigen. Der Mieterschutz in den USA hängt stark von Wohnort und Mietvertrag ab. © LightShed, The Next Amendment

Damit steht The Next Amendment der Idee von Housing First sehr nahe. Housing First besagt, dass Menschen, die obdach- oder wohnungslos sind, zuallererst eine Unterkunft bekommen sollten – und zwar ohne jegliche Bedingungen oder Anforderungen. Probleme wie Drogensucht, Schulden oder Arbeitslosigkeit sollen erst später angegangen werden, die Bleibe die dafür dringend erforderliche Stabilität schaffen. Die Unterkunft wird nicht als Belohnung, sondern als Grundvoraussetzung verstanden.

Damit wollen Vertreter des Housing First-Ansatzes die endlose Spirale aus Notübernachtungen und Sammelunterkünften überwinden. Immer mehr Länder und Städte experimentieren derzeit mit Housing First, auch in Berlin gibt es ein Modellprojekt. The Next Amendment will eine Million US-Dollar für Housing-First-Projekte in den USA einsammeln und These Sleepless Nights soll dabei helfen.

Die Kampagne von These Sleepless Nights

Das AR-Projekt wurde von The Next Amendment in Auftrag gegeben, Produzent war Edward Saatchi selbst, produziert haben es die Firmen LightShed, Dpt. und weitere Partner. Eine finanzielle Beteiligung für das Prototyping kam auch von Magic Leap, wie mir Gabo Arora erzählte. Er hatte bei dem Projekt volle künstlerische Freiheit.

Nach der Premiere sollen Installationen in mehreren US-Städten (San Francisco, Milwaukee und Washington, DC) eröffnen, wo Menschen um große, metallene Kuben herumlaufen und mittels einer App auf ihren Smartphones die AR-Erfahrung vor Ort erleben können. Via App soll man dann auch gleich spenden können. AgitARt nennt Saatchi diese Art der öffentlichen Kunst für einen guten Zweck. Zusätzlich dazu soll These Sleepless Nights in Galerien und Museen gezeigt werden, so Gabo Arora in Venedig.

Die politischen Forderungen und die starke Anlehnung an das Buch Evicted lässt mich verstehen, warum sich These Sleepless Nights vor allem an ein US-amerikanisches Publikum richtet. Doch wenn ich nur das AR-Projekt als solches betrachte, so hätte ich mir ein stärkeres „An-die-Hand-Nehmen“ gewünscht, mehr Einbettung, mehr Erklärungen, eventuell gar einen globaleren Ansatz. Denn das Problem ist ein weltweites.

Die interaktiven Szenen halfen bei der Orientierung, allerdings hätte ich persönlich mehr visuelle Darstellungen benötigt, um die Erfahrung emotional voll erfassen zu können. Denn das Zuordnen der Stimmen fiel mir nicht leicht, das Zuhören war bisweilen mühsam: Viele der O-Töne sind berührend, gnadenlos offen, die Erzählungen erschüttern. Doch für Nicht-Muttersprachler sind sie oft nur schwer zu verstehen.

So ist es eine Mutter, die mir am meisten im Gedächtnis geblieben ist. Den Christbaum wollte sie für ihren Sohn aufstellen, unbedingt – auch wenn sie nicht sagen konnte, ob sie Weihnachten noch in diesem Haus leben würden. Die schlaflosen Nächte bekommen durch sie eine echte, eine bildhafte Stimme.

Dieser Artikel erschien urspünglich auf Mixed.de.

Mehr zum Thema:

Auch Terminal 3, ein AR-Projekt mit der Hololens, kritisiert die Politik der USA. Ich konnte es 2018 beim Tribeca Film Festival erleben und war sehr beeindruckt.

Dort habe ich auch Gabo Aroras letztes Projekt, The Day The World Changed, gesehen. Beide Projekte habe ich in diesem Artikel beschrieben.

Veröffentlicht von Pola Weiß

#Diplom-Psychologin #Filmtante #Kino-Binge-Gängerin #Fernseh- und Online-Redakteurin ## Ich liebe gut erzählte Geschichten, egal wo. Während meiner spannenden Arbeit als Medienarbeitsbiene (u.a. für SWR und arte) bin ich auf die unglaubliche Welt von Virtual Reality gestoßen. 2017 habe ich schließlich VR Geschichten gegründet und entdecke seitdem von Berlin aus die unendlichen VR Weiten.

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