Ein Jahr lang habe ich gewartet und gehofft: Wann kann ich es sehen? Und wo? Denn Wolves In The Walls versprach vorab Herausragendes. Beim diesjährigen Tribeca Film Festival konnte ich die VR-Erfahrung endlich selbst ausprobieren. Und nicht nur das: Im Anschluss erzählten mir Producerin Jessica Shamash und Regisseur Pete Billington ein paar ihrer Geheimnisse. Dieser Artikel ist der erste von mehreren über dieses für Storyteller so wichtige Projekt.
„Wir haben uns aufgemacht, eine tolle Geschichte zu erzählen. Und wir endeten damit, eine Enzyklopädie zu erschaffen mit all unserem Wissen über interaktives Storytelling.“ Pete Billington
Lucy und ich
Auf meinem Kopf sitzt die VR-Brille, ich befinde mich in einem kleinen Raum. Die Geräusche des Festivals klingen noch dumpf durch die Kopfhörer, doch ich vergesse sie schnell. Ein Mädchen in einem rot-weiß gestreiften Pullover steht mir gegenüber. „Hm, ich hab‘ dich wohl zu groß gezeichnet“, sagt sie und blickt mir kritisch von unten ins Gesicht. Dann wischt sie ein bisschen, zeichnet und wedelt – und zack bin ich geschrumpft. Wir sind jetzt auf Augenhöhe, Lucy und ich, nun können wir uns kennenlernen. Ich bin ihre neue Freundin, jemand, dem sie sich anvertrauen kann.
Denn Lucy hat einen furchtbaren Verdacht, dem sie nachgehen muss. Weder ihre Mutter noch ihr Vater glauben ihr. So greift sie zu einer pragmatischen Lösung und malt sich eine Gefährtin, den Watson ihres Detektivspiels, mich. Zusammen wollen wir herausfinden, was die unheimlichen Geräusche bedeuten, die sie seit Langem in den Wänden ihres Hauses hört. Sind es Wölfe?
Die 8-jährige Lucy ist die Hauptperson des VR-Animationsfilms Wolves In The Walls. Er basiert auf dem gleichnamigen Buch von Neil Gaiman und Dave McKean. Laut Regisseur Pete Billington eignet sich der Inhalt besonders gut für eine Charakter-getriebene Geschichte in Virtual Reality, denn alles dreht sich um kindliche Fantasie und Emotionen. Es gehe darum, sich wie ein Kind zu fühlen.
Das Team arbeitet bereits seit mehreren Jahren daran und die Arbeit geht weiter. Gesehen habe ich die ersten beiden Kapitel, das dritte und letzte soll, wenn es nach Jessica und Pete geht, noch dieses Jahr seine Festivalpremiere feiern. Ursprünglich war das Projekt beim Oculus Story Studio angesiedelt. Als Facebook dieses 2017 schloss, fand Lucy mit ihren Abenteuern zum Glück ein neues Zuhause. Zusammen mit einem Teil des Teams zog sie zu dem in San Francisco ansässigen Fable Studio.
Realistische Charaktere und virtuelle Wesen
Nachdem 2018 das erste Kapitel beim Sundance Film Festival Premiere feierte, waren Kritiker und VR-Enthusiasten voll des Lobes. Grund dafür ist vor allem eine technische Innovation, die Wolves In The Walls nutzt: Lucy, meine Freundin und Gebieterin (sie kann ganz schön bestimmend sein), ist keine gewöhnliche Animation.
Ihre Schöpfer nennen sie ein „Virtual Being“, ein virtuelles Geschöpf. Im Hintergrund läuft ein Programm, das die VR-Erfahrung jederzeit an mein Verhalten anpasst. Mache ich ein Foto mit dem falschen Motiv? Lucy schimpft mit mir. Bin ich zu langsam? Auch dann. Mache ich etwas richtig, freut sie sich.
Besonders wirkungsvoll ist es im Kleinen, nämlich dann, wenn Lucy auf mich zukommt, mich an die Hand nimmt oder mir ausweicht. Ihre Bewegungen passen sich den meinen an. Und sie kann mich anschauen, ganz direkt und egal, wo ich gerade stehe. Wie viel Wissen selbst für solche kleinen Interaktionsmomente nötig sind, erklärt mir Jessica Shamash, Producerin des Projektes:
„Es ist ein ganz natürlicher, intuitiver Blickkontakt, genauso wie wir beide in diesem Moment Blickkontakt haben. Dabei ist es sehr wichtig, die Balance zu finden: Wann siehst Du in das Gesicht von jemanden, wann schaut sie auf deinen Mund, wann du auf ihren? Da sind all diese subtilen Dinge zu beachten, Regeln, die man einhalten muss, um einen realistischen Charakter zu erzeugen, dem man sich emotional verbunden fühlt.“
Ja, ich fühle mich respektiert und gemocht, wenn Lucy mich ansieht. Diese Form der Interaktion ist eine von vielen Tricks, die sich das Wolves In The Walls-Team beim Theater abgeschaut hat. Wie genau das im Detail aussieht und welche Mechanismen fürs Storytelling wichtig sind, beschreibe ich Euch im zweiten Artikel zu Wolves In The Walls.
Was Fable Studio mit interaktiven Charakteren vorhat, erfahrt Ihr in diesem Video:
Wolves In The Walls bringt eine neue Art der Interaktion
Interaktion funktioniert bei Wolves In The Walls vor allem durch Objekte. Lucy reicht mir eine Lupe, ich nehme sie. Die Übergänge sind derart flüssig, dass ich sie meist nicht bemerke. Die Geschichte pausiert nicht, wie in vielen interaktiven VR-Erfahrungen, bis die User endlich den Hebel ziehen, die korrekte Seite im Buch aufschlagen oder ins nächste Zimmer gehen. Pete schreibt in diesem schönen Text bei No Proscenium: “Wir wollten ein neues Konstrukt. Eines, bei dem die Interaktivität nicht die Erzählung als Geisel nimmt.“ In unserem Gespräch führt er dieses Prinzip näher aus:
„Du triffst viele Entscheidungen, aber ohne über sie nachzudenken. Das gut umzusetzen war das Härteste für uns. Wir wollten, dass die Entscheidungen intuitiv sind, unbewusst und unsichtbar. Wenn du die Kamera nimmst und ein Foto schießen sollst: Was würde passieren, wenn du es nicht tust? Lucy fände auch dann einen Weg, wie sie mit ihrer Geschichte fortfahren kann.“
Diese Szene ist am Ende des ersten Kapitels. Ich soll Beweise sammeln, dass die Wölfe echt sind und in den Wänden sitzen. Dafür drückt mir Lucy eine alte Polaroid-Kamera in die Hand. Zuerst fotografiere ich Lucy, wie sie so da sitzt und mir vorliest. Sofort schaut sie von ihrem Buch auf und weist mich grimmig zurecht: „Nicht mich, du Dummerchen, die Wölfe!“. Also strenge ich mich an und fotografiere weiter. Und tatsächlich finde ich etwas…
Jessica weist auf die dramaturgische Bedeutung dieser Szene hin:
„Das ist eines der bedeutsamsten Dinge: Es ist das von dir aufgenommene Foto, das Lucy auf ihre Reise schickt. Dein Bild gibt ihr den Beweis, den sie gesucht hat. Es ist das auslösende Ereignis.“
Dramaturgie: Kleine Zweige statt großer Verästelung
Meine Aufgabe mit der Kamera bleibt eine der wichtigsten, auch wenn ich im Laufe der Geschichte immer wieder mit anpacken kann.
Tatsächlich gibt es für mich laut Pete und Jessica mehr als 100 kleine Entscheidungsmomente in der VR-Erfahrung. Alternative Story-Linien oder gar mehrere Endungen, im Englischen nennt man das „Äste“, waren jedoch nie Teil des Konzeptes. Pete drückt es so aus:
„Anstelle von ‚Ästen‘ sprechen wir von ‚Zweigen‘, wie diese sehr kleinen Zweige, die immer wieder zum Baumstamm zurückkommen. Denn Lucys Charakter zeigt eine Entwicklung. Sie hat auch ein Ziel.“
So renne ich atemlos mit Lucy durch die Zimmer ihres Hauses. Wir lauschen gemeinsam an den Wänden und markieren mit Kreide die Stellen, an denen wir etwas zu hören glauben. Genauso, wie richtige Detektive es tun würden. Bei allem, was wir unternehmen: Lucy gibt den Ton an. Meine Handlungen sind zwar von Bedeutung, doch sie verändern die Geschichten nur im Kleinen. Was dahinter steckt, erklärt Pete:
„Wenn du ein Spiel spielst, bist du die Hauptperson und die Geschichte baut sich um dich herum auf. Wir wollten aber, dass es Lucys Geschichte ist. Du bist trotzdem wichtig. Du bist ihre Freundin. Wenn wir Freunden helfen, können wir auf deren Leben Einfluss nehmen – im Guten wie im Schlechten. Doch sie treffen immer noch ihre eigenen Entscheidungen.“
In Wolves In The Walls werden die User zu Sidekicks
So bedient sich Wolves In The Walls eines Tricks, den ich schon von mehreren VR-Kreativen gehört habe: Man muss sich nicht zwischen einer Ich-Perspektive wie im Video-Spiel und der Erzählung aus der dritten Person wie in einem Film entscheiden.
Die erste Option verleiht den Spieler*innen viele Freiheiten, doch ihre Rollen und Ziele bleiben oberflächlich. Es ist ein klassisches Spieler-Ich. Das klappt gut für Action-getriebene Spiele, für ein Drama ist es eher ungeeignet. Sind die User hingegen Geister und erleben die VR-Erfahrung in der dritten Person, so mag die Geschichte mehr Tiefgang haben. Doch es kann frustrieren, in einem interaktiven Medium wie VR dauerhaft zum Nichtstun verdammt zu sein.
Welch Freude, dass es einen Mittelweg gibt: In vielen Video-Spielen existiert dieses Wesen, das der Heldin (die traditionell in Games auch die Spielerin ist) auf Schritt und Tritt folgt, die Arbeit erledigt, dennoch selbst nicht viel zu sagen hat. Mal ein Hund, ein kleiner Drache, Sohn oder Tochter. Oder eine imaginäre Freundin.
Lässt man die User einer VR-Erfahrung nun nicht die Helden sondern eben solche Helferlein spielen, so schlägt man zwei Fliegen mit einer Klappe: Sie haben eine tatsächliche Rolle, sind am Geschehen beteiligt und keine Zuschauer mehr. Gleichzeitig beobachten sie die eigentlichen Protagonisten der Geschichte, die Helden. Diese können auf diese Weise die charakterliche Tiefe entwickeln, die so wichtig ist für Spannung und Gefühl.
Bei Wolves In The Walls ist das Ergebnis eine lineare Dramaturgie mit non-linearen Momenten. Kein Film, kein Game, aber irgendetwas dazwischen.
Wissenshunger geweckt? Hier gibt’s mehr zum Thema
Hier gehts zum zweiten Teil meiner Wolves In The Walls-Artikelreihe: Was können VR-Storyteller vom immersiven Theater lernen? Im dritten beschreibe ich dann, warum VR-Storyteller die reinsten Superhelden sein können. Er wird bald erscheinen.
Hier könnt Ihr Euch ein wenig mehr mit der Theorie befassen: Was unterscheidet einen interaktiven VR-Film von einem VR-Game?
Und hier sind einige Beispiele aus dem letzten Jahr: interaktive Filme in 360-Grad und in Virtual Reality.
UPDATE August 2019: Die ersten beiden Kapitel Wolves In The Walls: It’s All Over sind jetzt im Oculus Store verfügbar für Oculus Rift und Rift S (Early Access).
UPDATE November 2019: Woooooooowwwww (Freudenschrei). Das dritte und letzte Kapitel ist veröffentlicht! Ab sofort für Oculus Rift. Los geht’s.
Ein Gedanke zu „Wolves In The Walls: Interaktivität neu gedacht“