Es ist eine Frage, über die sich VR-Fans so emotional streiten können wie Berliner Radfahrer mit SUV-Besitzern. Am Ende ist es eine Frage der persönlichen Präferenz. Aber was ist ein 180-Grad-Film überhaupt? Und warum tut man so etwas?
180-Grad: Die Leinwand kehrt zurück
Das Prinzip von 180-Grad ist ziemlich einfach: Die Handlung spielt sich eben nicht rundherum ab, sondern nur in der „Halbkugel“ unmittelbar in unserem Blickfeld. Kein lästiges Umdrehen mehr, man kann weder etwas verpassen noch von hinten erschreckt werden (Spoiler: ist von vorne aber auch möglich…). Im Grunde bringen 180 Grad filmische Gestaltungsmittel wie Bildausschnitt, Einstellungsgröße und Bildkomposition zurück – Techniken, die vor allem traditionelle Filmemacher in 360-Grad und VR schmerzlich vermissen.
Erst kürzlich habe ich über The Great C geschrieben, dessen Schöpfer dieses Problem auf ihre Art angepackt haben: Statt 180-Grad nutzen sie Zwischenschnitte und Kamerabewegungen.
Für die Technik des 180-Grad-Filmes gibt es seit Kurzem ein sehr prominentes Beispiel: The Limit von Hollywood-Superstar Robert Rodriguez (obwohl es wohl ein paar mehr Grad als 180 sind). Ansehen könnt ihr den Action-Kurzfilm so ziemlich überall, sowohl auf mobilen VR-Brillen, via App und Cardboard, wie auch auf Playstation und PC-Brillen.
Aber seid vorsichtig, wenn ihr zu Motion Sickness neigt. Ich lag nach nur 7 (von 20) Minuten ziemlich leblos am Boden unseres Wohnzimmers und habe mit leisem Wimmern eine Wärmflasche auf meinen Magen gedrückt. Scheint eine Typ-Sache zu sein: Der Liebste blieb bei dem Film absolut cool, hat ihn sogar sehr genossen, und zog verwundert die Augenbrauen hoch, als er mich so fand.
Auch die – meiner Meinung nach viel mehr zu empfehlende – App Amaze VR arbeitet mit 180-Grad-Bildern, und das sogar interaktiv. Ihr findet sie ebenfalls für fast alle Geräte in den jeweiligen Stores.
Doch auch schon davor gab es Beispiele für ein Erzählen in 180-Grad. Bislang habe ich drei Versionen eines 180-Grad-Storytellings gesehen.
Variante 1: Das schwarze Nichts
Die beiden Beispiele von oben stellen die radikalste Variante von 180-Grad-Produktionen dar. Während man vorne einen vermeintlich normalen 360-Grad-Film erleben kann, ist die hintere Hälfte der 360-Grad-Kugel einfach schwarz. Alternativ sieht man hinter sich einen dunklen Kinosaal oder eine verschwommene Fläche, nur eben nicht die Szene von vorne. Die Trennlinie ist gnadenlos: sie zieht sich mitten durch die Umgebung, teilweise sogar durch Objekte, Möbel und sogar „eigene“ Körperteile hindurch (The Limit spielt in der Ego-Perspektive), die dann nur noch zur Hälfte zu sehen sind.
Wer von Euch hat als Kind „Momo“ von Michael Ende gelesen? So in etwa habe ich mir immer das Nichts vorgestellt.
Nachteile des 180-Grad-Filmes
Für mich ist die Technik des schwarzen Nichts (schön melodramatischer Name, den ich mir da ausgedacht habe, oder?) leider ein zu großer Bruch. Eine so wörtliche Umsetzung der 180-Grad-Technik beraubt mich gleich zweier Vorteile von VR und 360-Grad: Ich darf nicht mehr frei entscheiden, ob ich mich umsehen möchte oder nicht.
Und, viel gravierender, das Gefühl für den Raum geht verloren: Die Umgebung kann nicht mehr so unmittelbar auf mich wirken, wie wenn sie überall um mich herum zu sehen, zu hören und dadurch auch zu spüren ist. Es macht einen Unterschied, ob ich weiß, dass etwas da ist und ich mich nur umdrehen müsste, um es zu sehen – oder ob da einfach nichts ist.
Hinzu kommt, dass abgeschnittene Objekte natürlich auch die Immersion beeinträchtigen. In jedem Augenblick erinnert die Trennlinie daran, dass man eben nur hinter der Glaskugel sitzt, anstatt darin.
Die Vorteile
Einen Vorteil will ich Euch allerdings nicht verschweigen: Filmt man nur in 180- statt in 360-Grad, ist die Herstellung deutlich einfacher und es sind kleinere Datenmengen. Vor allem fällt das bei stereoskopischen Videos ins Gewicht. Es gibt für diesen Zweck auch spezielle 180-Grad-Kameras. Dank Initiativen wie VR180 von Google sehe ich im 180-Grad-Film auch mehr Potential für den nicht-professionellen Bereich, beispielsweise für kleine Familienfilme oder Urlaubsvideos. Naja, und natürlich für VR-Pornos, die das 180-Grad-Prinzip schon sehr lange erfolgreich anwenden (wurde mir gesagt).
Variante 2: Raumschiffe und Fenster
Baby, you can drive my car
Eine andere Möglichkeit nenne ich immer scherzhaft die Raumschiff-Technik. Ich habe sie getauft nach dem 360-Grad-Klassiker Titans of Space. Das alles gilt aber auch genauso für all die anderen VR- und 360-Grad-Erfahrungen, in denen man in einem geschlossenen Gefährt oder einem anderen Transportmittel sitzt: Das Bild geht zwar rundherum, aber hinten sieht man lediglich die unspektakuläre Rückwand des Raumschiffs, Autos oder Bootes, während sich die Handlung vorne abspielt.
Niemand würde für längere Zeit auf eine graue Fläche oder einen leeren Rücksitz starren, während vorne die beeindruckenden Ringe des Saturns schimmern. Ein neueres Beispiel ist der Kurzfilm Blade Runner 2049: Replicant Pursuit von Oculus.
Der Vorteil dieser Methode ist klar: Die fremde Welt wird nicht durch einen schwarzen Rand abgeschnitten, sondern der 180-Grad-Blick in die virtuelle Welt integriert. Inhaltlich macht es schließlich absolut Sinn, aus der Vorderscheibe eines Raumschiffes oder Autos zu schauen – man würde es in der realen Welt sicherlich genauso machen. Das Ganze ist deutlich eleganter als die „Haudrauf-Methode“ von oben.
Dass in einem Auto sitzen allerdings nicht automatisch auch eine 180-Grad-Perspektive bedeutet, hat der VR-Kurzfilm Pearl gezeigt, der sogar für einen Oscar nominiert war: In der rasanten Reise durch die Familiengeschichte eines jungen Mädchens muss man sich ständig hin-und her-drehen, um ja nichts zu verpassen. Das mag anstrengend sein, ist aber vor allem auf der Ton-Ebene ein äußerst interessantes Beispiel von 360-Grad-Erzählen.
Die Stalking-Version
Eine ähnliche, wenn auch inhaltlich nicht so konsistente Methode ist die Fenster-Technik. Streng genommen hat es mit 180-Grad gar nicht mehr so viel zu tun, nutzt aber das Element der Leinwand durchaus wörtlich.
Das Beispiel der interaktiven 360-Grad-Serie Fire Escape (erhältlich auf Daydream-Headsets und im Google Play Store) zeigt sehr anschaulich, was ich damit meine: Als Spielerin stehe ich auf einer Feuerleiter und schaue über den Innenhof hinweg in die Fenster meiner Nachbarn, der Hauptpersonen der Geschichte. Dort kann ich einen Mordfall verfolgen, und manchmal auch mit den Personen kommunizieren. Es ist eine nette Idee der Produktionsfirma von Hero, fühlt sich aber leider an wie ein Schritt rückwärts in ferne 2D-Zeiten.
Auch der Film Ctrl der von mir sehr geschätzten Macher von Lucid nutzt diese Idee, nur handelt es sich hier nicht um eine Szene in einem Fenster, sondern um einen Video-Chat. Auf einem Bildschirm in VR verfolgt man die Geschichte in klassischem 2D, was in diesem Fall für mich mehr Sinn macht als die Nachbarn über den Hof hinweg auszuspionieren.
Beide Beispiele spielen allerdings auch recht geschickt mit der Begrenzung des Bildes (also des Fensters oder Bildschirmes), indem immer wieder auch Handlungen außerhalb des Sichtbaren stattfinden, die man nur über Geräusche verfolgen kann.
Die Methode mit Computerbildschirmen findet man übrigens ziemlich häufig in VR-Videospielen, z.B. in Kobold. In einem Youtube-Video auf einem virtuellen Laptop erzählt einer der Charaktere die Vorgeschichte des Spiels. Auch Varianten mit Video-Kassetten und Fernsehbildschirmen werden gerne benutzt.
Variante 3: Blickführung und Kamerapositionen
Am elegantesten finde ich Tricks immer, wenn sie nicht auffallen. Tatsächlich arbeiten die meisten 360-Grad- und selbst einige VR-Filme mit einer 180-Grad-Perspektive – wenn nicht durchgehend, so zumindest in einigen Szenen. Achtet einmal drauf! Das Ganze ist sehr verwandt mit anderen Techniken zur Steuerung der Aufmerksamkeit von Zuschauerinnen und Zuschauern.
Wände hinten, Bühne vorn
Die Aufmerksamkeit mit einer 180-Grad-Erzählweise zu beeinflussen ist denkbar simpel. Ein fiktives Beispiel wäre, wenn ich in dem 360-Grad-Film mit dem Rücken vor einer Wand stehe und vor mir in ein Zimmer blicke. Warum sollte ich denn – bis auf einen kurzen Blick und die Erkenntnis, dass da nichts Wesentliches ist – auch die Mauer hinter mir angucken anstelle der Szene im Zimmer? Es gibt keinen Grund, vor allem, wenn die Wand absichtlich möglichst uninteressant gestaltet ist. I, Philip, ein schon ein paar Jahre alter 360-Grad-Film in der App Arte360 VR, nutzt dieses Mittel in beinahe jeder Szene.
Und, um hier auch einmal VR-Filme und nicht nur 360-Grad-Filme als Beispiele anzuführen: Bei den Penrose-Produktionen The Rose And I, Allumette und Arden’s Wake ist der Ansatz eigentlich vom Theater stibitzt. Man sieht auf (und in) eine süße Miniatur-Welt vor sich, hinter einem sind lediglich die immer gleich bleibenden Wolken oder das Meer zu sehen. Nur manchmal kommt ein Schiffchen von dieser Seite angefahren. Bis auf solche Situationen spielt sich aber das meiste in einer Richtung ab.
Die Zuschauer subtil führen
Etwas raffinierter wird es, wenn eine Hälfte der 360-Grad-Umgebung ein paar weniger Details beinhaltet als die andere, ohne aber gleich ganz bedeutungslos zu sein. Neugierig wie wir Menschen eben sind, wenden wir uns eher der aufregenderen Seite zu. Diesen Trick erzählte Antoine Cayrol, VR-Produzent von I, Philip und Gründer von Atlas V (damals noch Okio-Studios), bei einem Symposium in 2017. Dafür arbeitet er sehr eng mit den Set-Designern der von ihm produzierten Filme zusammen.
Eine weitere Möglichkeit ist es, eine Hälfte der 360-Grad-Kugel ganz leicht abzudunkeln oder fast unbemerkt etwas unscharf zu machen. Der von Antoine Cayrol nach I, Philip produzierte Film Alteration arbeitet in vielen Szenen so.
Auch der schon etwas ältere 360-Grad-Film My Brother’s Keeper nutzt für einige Szenen eine sehr ähnliche Idee. Allerdings ist es hier ein dichter Nebel, der den Blick in nur eine Richtung zulässt (und so ganz nebenbei verschiedene Perspektiven ermöglicht).
Nicht vergessen: Die Montage
Sich darüber im Klaren zu sein, wo die Leute hinschauen werden, ist natürlich ganz elementar für VR- und 360-Grad-Filme und insbesondere für die Montage in 360-Grad. Schneiden bedeutet hier meistens auch ein Ortswechsel. Wenn ich zuvor von der Wand weg ins Zimmer geblickt habe, sollte ich nach einem Schnitt (also in der neuen Szene an einem neuen Ort) nicht orientierungslos mit der Nase an einer anderen Wand hängen, sondern von Anfang an in die gewünschte Richtung blicken. Das erklärt Jessica Brillhart ganz wunderbar in diesem Video.
Mit solchen Techniken kann man, wenn es denn gewünscht ist, die 180-Grad-Perspektive den ganzen Film über beibehalten – ohne gleich die Hälfte des Bildes abzuschneiden.
Fazit: 180-Grad ist ein erzählerisches Mittel innerhalb von 360-Grad
Neuerdings hat das Thema mit Hochglanz-Produktionen wie The Limit, die 180-Grad sehr drastisch interpretieren, neue Aufmerksamkeit bekommen. Tatsächlich ist es aber so, dass The Limit das Erzählen in 180-Grad keineswegs neu erfunden hat.
Der 180-Grad-Blick ist ein schon längst erprobtes erzählerisches Mittel, das jedoch (von der Pornoindustrie einmal abgesehen) nicht zusätzlich zu 360-Grad-Filmen existiert, sondern vor allem innerhalb dieser.
Während ganz am Anfang der 360-Grad-Technik die Zuschauerblicke noch häufig durch die gesamte Sphäre des 360-Grad-Raumes gejagt wurden und auf jeder Seite etwas passierte, bildeten sich nach und nach Methoden der Aufmerksamkeitssteuerung heraus. Eine von ihnen ist der Fokus auf die „Halbkugel“ unmittelbar vor den Augen der Zusehenden.
In VR, wo sich die Zuschauer- und Spielerschaft ja nicht nur umsehen, sondern auch bewegen kann, ist die ganze Sache mit der Aufmerksamkeit noch etwas komplizierter. 180-Grad ist in der „echten“ VR daher kaum ein Thema, es sei denn, es geht um VR-Filme, sehr story-getriebene VR-Spiele oder einzelne Szenen darin.
Habt Ihr noch andere Beispiele für 180-Grad-Erzählweisen? Schreibt mir gerne, über das Kontaktformular oder direkt hier in die Kommentare.